Süddeutsche Zeitung

Studie zu "Volk ohne Raum":Vom Abenteuerroman zum Genozid

Vom Kolonialismus über die Vision völkisch homogener Grenzen bis zur Formel "Volk ohne Raum": Die Historikerin Ulrike Jureit beschreibt die Entstehung der nationalsozialistischen Expansionspolitik - und ihre Grundlagen.

Von Sven Reichardt

Die Hamburger Historikerin Ulrike Jureit hat eine Überblicksdarstellung zur nationalsozialistischen Raumpolitik vorgelegt, die sehr weit in die Vergangenheit zurückgreift. Sie beginnt bei den frühneuzeitlichen Techniken topografischer Vermessung, ordnender Statistik und kartografischer Planungsarbeit im 17. Jahrhundert und reiht den Nationalsozialismus in die lange Tradition des Denkens und Handelns in der Kategorie "Territorialität" ein.

Vor allem durch den industriellen Ressourcenabbau des 19. Jahrhunderts mit seinen groß angelegten Infrastrukturprojekten waren räumliches Planen und sozialökonomischer Strukturwandel eng miteinander verbunden worden. Aus der Gleichzeitigkeit von massivem Bevölkerungswachstum und zunehmender Raumstrukturierung entstand alsbald das Wahrnehmungsmuster eines sich verringernden Raumes. Diese europäische Klaustrophobie konnte zunächst noch durch koloniale Eroberungen in Afrika, Amerika und Asien stabilisiert werden.

Der entscheidende Durchbruch hin zur nationalsozialistischen Entwicklung war die Biologisierung geografischer Wissensbestände. Beginnend bei den kolonialen Grenzziehungen des 19. Jahrhunderts schildert Ulrike Jureit, wie vor allem der profilierte Leipziger Geograf Friedrich Ratzel, Mitglied des expansionistisch-nationalistischen Alldeutschen Verbandes, den Lebensraumbegriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts politisierte, indem er Boden und Staat planmäßig miteinander verband. Die These vom Kampf um den Lebensraum war damit in die Welt gesetzt worden.

Nach dieser Grundlegung geht das Buch auf die deutsche Politik ein und behandelt ausführlich die Besatzungspolitik im Militärstaat Ober Ost. Während des Ersten Weltkriegs war nämlich auf dem etwa 160 000 Quadratkilometer umfassenden Gebiet von Kurland, Litauen und Bialystock-Grodno ein Bollwerk gegen Russland ausgestaltet worden, in dem Einwohner, Güter und Geräte wie koloniales Inventar statistisch erfasst, gezählt und sortiert wurden. Ökonomischer Aufbau und Kulturmission verschmolzen in dem gewaltsamen Zwangssystem aus Ausplünderungen, Beschlagnahmungen und dementsprechenden An- und Umsiedlungsabsichten.

Die Vision völkisch homogener Grenzen bestimmte auch das Ordnungsdenken des Versailler Vertrags. Die Minderheiten der kleinräumigen Mischgebiete Osteuropas wurden zum Objekt politischer Ordnungsphantasien und insbesondere die deutsche Geografie der Zwanzigerjahre entwickelte eine Deutschtums- und Kulturbodenforschung, die das Grenz- und Auslandsdeutschtum als ebenso bedrohte wie heimatlose Einheiten entwarf. In umstrittenen Regionen wie Oberschlesien wurde das völkische Einmaleins erprobt und die Formel vom "Volk ohne Raum", Titel des Romans von Hans Grimm aus dem Jahr 1926, avancierte in den Dreißigerjahren zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen Außenpolitik.

Das Ordnungskonzept der Nationalsozialisten knüpfte an diese Entwicklungen an und kombinierte Vorstellungen von agrarwirtschaftlicher Modernisierung mit rassenbiologischer Homogenisierung. Kartografien und Bevölkerungsstatistiken waren mehr als bloß abbildende Verfahren: sie avancierten zu Kulturtechniken der Raumkonstituierung und politischen Handlungsaufforderung.

Nach dem deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom September 1939 wurden die Germanisierungs- und Umsiedlungspläne zur sozialen Wirklichkeit. Vor allem im Zweiten Weltkrieg waren die verschiedensten Pläne aus Zerstörungs- und Neuordnungswillen auf den Experimentierfeldern der neu besetzten Ostgebiete zunächst erprobt und, durch konkurrierende Initiativen, bis hin zu dem hypertrophen Generalplan Ost von 1941 immer weiter radikalisiert worden.

Anders als im Kolonialismus wurde Osteuropa jedoch nicht als leerer Raum, sondern als zu leerender und durch rassische Auslese neu zu sortierender Raum betrachtet. Von der These einer Kontinuität zwischen kolonialem Massenmord und nationalsozialistischem Genozid setzt sich die Autorin ebenso klar wie überzeugend ab. Die koloniale Raumplanung folgte nicht nur einer anderen Logik, sie bediente sich auch anderer Methoden und logistischer Verfahren.

Lebensraum bezeichnet, so Jureit, eine biologische Territorialordnung, an deren Ende rassisch-völkische Homogenisierung und dementsprechende Vernichtung stand, während das Ziel kolonialer Herrschaft letztlich in der politischen und wirtschaftlichen Unterwerfung bestand: "Raumtheoretisch gehört der Konflikt um Großraum versus Lebensraum zu den aufschlussreichsten während des Zweiten Weltkrieges."

Gänzlich neu sind die Befunde dieser ganz ausgezeichnet geschriebenen Studie nicht. Jureits versteht es aber, viele der spezialisierten wissenschaftsgeschichtlichen Werke in eine breite Darstellung über die entgrenzte Lebensraumpolitik der Nationalsozialisten zu überführen. Dabei zeigt sie, wie wissenschaftliches Wissen in den politischen Handlungsablauf implementiert wurde.

Auch wenn der konkrete Einfluss einzelner Denkschriften und die Mitwirkung einzelner Wissenschaftler an bestimmten politischen Maßnahmen nicht detailliert aufgearbeitet wird: die hier vertretene Grundthese von der Bedeutung wissenschaftlicher Politikberatung für die Praxis der Judenvernichtung ist durchweg einsichtig.

Weniger einleuchtend ist hingegen, warum die wichtigen transnationalen und globalgeschichtlichen Forschungen der vergangenen Jahre nicht stärker mit dieser vornehmlich deutschen Geschichte der Raumkonzeptionalisierung verbunden werden. Aus internationaler Perspektive ging der Aufstieg der Geopolitik weit über Deutschland hinaus. Mit einflussreichen Experten wie dem britischen Geostrategen Halford Mackinder, dem US-amerikanischen Marineexperten Alfred Mahan oder dem schwedischen Politikwissenschaftler Rudolf Kjellén begann sich die Geopolitik am Ende des 19. Jahrhunderts als eine Form zukunftsweisender Politikberatung zu etablieren.

Diese transnationale Verflechtungsgeschichte deutet Jureit zwar an, sie konzentriert sich in ihrer Analyse aber auf die deutsche Entwicklung. Man hätte sich gewünscht, mehr von den internationalen Beziehungen und transnationalen Verflechtungen der Raumexperten im nationalsozialistischen Deutschland zu erfahren. Gleichwohl liefert dieser Band einen souverän geschriebenen Überblick über Semantiken, Konzepte und Praktiken räumlichen Ordnens, in der die Verschränkung von kartografischer Repräsentation und politischer Praxis, von wissenschaftlicher Theorie und politischer Handlungspraxis in äußerst lesenswerter Form dargestellt wird.

Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2012. 445 Seiten, 38 Euro.

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SZ vom 19.03.2013/kath
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