"Desintegriert euch!" von Max Czollek:Als wäre Rassismus der Inbegriff deutscher Normalität

Teilnehmer einer Demonstration von AfD und Pegida in Chemnitz

Max Czollek kämpft gegen eine "deutsche Normalität", die von Leitkultur und völkischem Heimatkitsch geprägt ist.

(Foto: dpa)

Max Czollek, Jahrgang 1987, polemisiert gegen das Integrationstheater aus Leitkultur und Heimatkitsch. Der Autor möchte dringend etwas sagen. Er scheint nur nicht genau zu wissen, wie. Oder was.

Von Felix Stephan

Bei Suhrkamp ist gerade ein kleiner Essay von Chantal Mouffe erschienen, in dem die belgische Politologin einen "linken Populismus" einfordert und "klare Frontlinien" und allerlei weitere kreative Möglichkeiten, das Denken einzustellen. Gut möglich, dass Max Czollek das Buch gelesen hat, bevor er seinen Essay "Desintegriert euch!" geschrieben hat. Auf Englisch liegt es schon länger vor.

Czollek, der 1987 in Berlin geboren wurde, füllt das Format mustergültig aus, mühelos überführt er linke Ideen in populistische Argumentationsmuster: Er behauptet ein Tabu, wo keines ist, um es sogleich heroisch zu brechen. Er stilisiert seine ideologischen Gegner zur metapolitischen Supermacht, um sogleich heroisch gegen sie zu Felde zu ziehen. Und er stellt wilde Behauptungen in den Raum, um sie gleich darauf wieder zu relativieren und im Zuge all dessen eine Antwort auf eine Frage anzubieten, an die sich längst niemand mehr erinnern kann.

Er kämpft gegen eine "deutsche Normalität" aus Leitkultur und Heimatkitsch

Dabei ist der Grundgedanke des Buches nicht einmal falsch. Er lautet, dass Minderheiten in Deutschland von der Mehrheitsgesellschaft Rollenmuster zugewiesen bekommen, die nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen. Max Czollek ruft die Minderheiten deshalb dazu auf, sich gegen diese Zuschreibungen zu verwahren, um auf diese Weise die deutsche "Dominanzkultur" zu brechen.

Brandneu ist die Beobachtung nicht: In Woody Allens "Annie Hall" gibt es eine Szene, in der die Hauptfigur zum ersten Mal bei der Familie ihrer Freundin auf dem Land zu Besuch ist und sich vor den prüfenden Blicken dieser amerikanischen Protestantenfamilie in einen chassidischen Juden verwandelt, mit Locken, Krempenhut und allem, was dazugehört. In den Siebzigerjahren war das ein Witz über die Fallstricke des Pluralismus, der eine halbe Sekunde dauerte, bei Czollek trägt der Gedanke, dass sich in diesem Verhältnis die faschistoide Fratze Deutschlands äußert, ein ganzes Buch.

Die Deutschen, schreibt er, nötigten die Juden und andere Minderheiten zur Teilnahme am "Integrationstheater", das lediglich der Selbstvergewisserung der Deutschen diene. Um sich ihrer eigenen Faschistoidität nicht bewusst werden zu müssen, führten sie ein Gedächtnis- und Integrationstheater auf, in dem die Juden die Rolle des Opfers einnehmen, das dem Täter seine Läuterung bescheinigt. Dieses Theater lege die Juden auf ihre Opferrolle fest und verlange von ihnen, ständig über den Holocaust sprechen zu müssen, obwohl sie vielleicht lieber über steigende Mieten diskutieren würden. Das jüdische Leben in Deutschland aber sei zu vielfältig, als dass man es ausschließlich um die Schoah kreisen lassen könne.

Mit den Rechten, so Czollek, werde er erst reden, wenn sie eingestünden, dass eine homogene Gesellschaft nur um den Preis der Reinigung zu haben sei. In Wirklichkeit aber redet er schon jetzt mit ihnen, und zwar ununterbrochen. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Buch: Wie umstandslos Czollek sich auf der Landkarte einordnet, die die Identitären gezeichnet haben, wie gelassen er ihre Prämissen übernimmt, in denen die Aushandlungsprozesse liberaler Gesellschaften gar nicht mehr vorkommen.

Den Deutschen stellt er die Juden gegenüber, einer radikalen Homogenität eine "radikale Vielfalt". Während sich die Rechten gegen einen "linken Mainstream" auflehnen, kämpft Max Czollek gegen eine "deutsche Normalität", die von Leitkultur und völkischem Heimatkitsch geprägt ist.

Um dieses Bild aufrechtzuerhalten, muss Czollek sehr viel auslassen: Die Deutschen, schreibt er, verdrängten die Rolle, die Auschwitz auch in der Gegenwart noch spiele, als sei der Deutsche Buchpreis 2017 nicht an Robert Menasses "Die Hauptstadt" gegangen, einen Roman also, der Auschwitz als Gründungsmoment der Europäischen Union versteht.

Ein Autor, der bei der Täterdebatte "zu Unrecht häufig unerwähnt bleibt", sei Martin Walser, als sei auf seine Paulskirchenrede im Jahr 1998 nicht eine der erbittertsten öffentlichen Debatten in der Geschichte der Bundesrepublik gefolgt und als sei sein Name nicht bis heute untrennbar mit dieser Rede verbunden.

Der Deutsche an sich empfindet bei Max Czollek eine Sehnsucht nach "Entlastung", die ein Recht auf Nationalstolz einschließe. Die Partei der Grünen wären demnach genauso wenig deutsch wie die Linke und weite Teile der SPD. Nicht einmal Angela Merkel wäre deutsch.

An einer Stelle des Buches ist der Rassismus der AfD der Inbegriff deutscher Normalität, ein paar Seiten später ist deutsche Normalität gerade wegen der AfD nicht möglich.

Alles dasselbe, alles deutsch

An einer Stelle wirft er den Deutschen vor, zu wenig über den Holocaust zu reden, auf den er selbst zehn Seiten vorher nicht mehr dauernd von den Deutschen angesprochen werden wollte. Der wütende Sprachgestus des Buches signalisiert, dass Czollek dringend etwas sagen möchte. Er scheint nur nicht genau zu wissen, wie. Oder was genau.

Czollek fordert Differenzierung für sich selbst, gewährt sie aber niemandem sonst: Sigmar Gabriels Heimatbegriff, Richard von Weizsäckers berühmte Rede zum Jahrestag des Kriegsendes, die Forderung nach einer Schweinefleischpflicht in norddeutschen Kindergärten, das ist alles dasselbe, alles deutsch. Die Minderheiten aber werden missverstanden. Wo soll das bitte hinführen? Und möchte das Buch überhaupt, dass man ihm argumentativ begegnet?

Max Czollek

Er wolle kein gutes Opfer sein, sondern ein böses, schreibt Max Czollek an einer Stelle.

(Foto: Peter-Andreas Hassiepen)

Beispiel "Homogenität": In ihrem Pluralismus-Buch "Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert" (Zsolnay Verlag, Wien 2018, 224 Seiten, 22 Euro) hat Isolde Charim erst vor Kurzem noch einmal gezeigt, dass die Homogenität in der Politik erstens ohnehin nie etwas anderes als eine Fiktion gewesen ist, ein imaginatives Ordnungsprinzip, das nie auch nur annähernd erreicht wurde, und dass sie zweitens die Voraussetzung für die Herausbildung des Nationalstaats war.

Max Czollek aber verwendet den Begriff ausschließlich in der vulgarisierten Variante der Identitären, um ihn dann wortreich zu suspendieren.

Historisch gesehen ist die Nation der natürliche Feind der Heimat

Auf die gleiche Weise verfährt er mit der Integration. Der Begriff setze ein kulturelles Zentrum voraus, eine Leitkultur, an der sich die Ränder zu orientieren hätten. Dieses Zentrum aber gebe es nicht. Das ist erst einmal wahr. Isolde Charim aber hat in ihrem Buch gezeigt, dass der Begriff der Leitkultur überhaupt nur in einer Gesellschaft denkbar ist, die sich längst als pluralistisch versteht.

Wer seine Kultur als Leitkultur auszugeben versuche, habe längst anerkannt, dass es nicht mehr die einzige sei. Dass der Wettstreit der Kulturen gerade der Ausweis einer pluralistischen Gesellschaft ist, betont nicht zuletzt der Soziologe Aladin El-Mafaalani seit Jahren immer wieder auf allen Kanälen. Kennt Czollek das alles nicht? Lässt er es bewusst aus?

Auch gegen den Begriff der Heimat geht Czollek beherzt vor, nach dem bekannten Muster: Er erkennt die Deutungshoheit der Identitären über den Begriff an und erklärt ihn dann zum schmutzigen Wort. Dabei ist Heimat ein vielschichtiger Begriff, der den Baklava-Laden an der Ecke genauso meinen kann wie den Bauernhof bei Altötting. Historisch gesehen ist die Nation der natürliche Feind der Heimat. Wenn man den Begriff aber den Nationalisten zuschlägt, wie Czollek es tut, bräuchte es dafür gute Gründe, über die Czollek sich aber an keiner Stelle den Kopf zerbricht. Es geht lediglich um Chantal Mouffes kleingärtnerische "klare Frontlinien". Wenn die Heimat sagen, sagt man das bei uns nicht.

Auch die Mehrheitsgesellschaft wird auf eine bestimmte Rolle festgelegt

Für das Selbstverständnis der Juden in Deutschland stellt das Buch das Symptom einer Zäsur da. Viele Juden aus Czolleks Alterskohorte sind nach Deutschland eingewandert und haben keinen eigenen familiären Bezug zur Schoah. Sie stammen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, aus Israel, Äthiopien, dem Irak, Frankreich, den USA. Ihre jeweiligen Biografien gleichen sich jenen der anderen Migranten in Deutschland tendenziell an, die spezifische Existenz als deutscher Jude oder deutsche Jüdin hingegen schwindet. Das äußert sich seit einigen Jahren in den Büchern von Dimitrij Kapitelman, Olga Grjasnowa, Sasha Marianna Salzmann, Lena Gorelik. Und Max Czollek fordert es jetzt ganz explizit ein.

In der Gesellschaft, die ihm vorschwebt, reihen sich die Juden ein in die Riege der Minderheiten, die zusammenrücken sollen unter dem Vordach des postkolonialen Theoriegebäudes, in dem Richard von Weizsäcker als alter weißer Mann der natürliche Gegner ist und James Baldwin der natürliche Alliierte.

Dass unter diesem Vordach auch die Hamas routinemäßig Platz nimmt und dass das Integrationstheater nicht nur Minderheiten auf eine bestimmte Rolle festlegt, sondern vor allem auch die Mehrheitsgesellschaft, und dass sich auch dort mehr als genug Leute finden, die das Integrationstheater lieber heute als morgen schließen würden, das sind so die Details, die in Czolleks Suada keinen Platz finden.

Er wolle kein gutes Opfer sein, sondern ein böses, schreibt Max Czollek an einer Stelle. Wenn aber bei der Selbstbestimmung zwei Kategorien ausreichen, ist das selten ein gutes Zeichen.

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Juli Zeh
Luchterhand Literaturverlag

© Peter von Felbert

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