Streit um "Panoramafreiheit":Plädoyer gegen den Urheberrechts-Extremismus

Wir alle sind heute ein bisschen wie Lichtenstein oder Warhol. Wir erstellen und teilen ständig Fotos und Videos, in denen Werke anderer vorkommen. Zeit, dass das Urheberrecht darauf eingeht.

Ein Gastbeitrag von Leonhard Dobusch

Am Ende werden es vermutlich die Leute des Online-Lexikons Wikipedia gerichtet haben. Wenn diese Kavallerie der Netzbewegung ausrückt und Druck macht, folgen selbst Abgeordnete quer durch die Parteien. So war es bei Protesten gegen Netzsperren in den USA, so wird es wohl auch am Donnerstag sein, wenn im EU-Parlament über das Urheberrecht abgestimmt wird. Dabei könnten die Parlamentarier dafür sorgen, dass man künftig keine Bilder und Videos mehr von Gebäuden und Kunstwerken im öffentlichen Raum machen darf, ohne beim Architekten oder Künstler um Erlaubnis fragen zu müssen.

Genau das möchte nämlich der französische EU-Abgeordnete Jean-Marie Cavada. Betroffen von einer derartigen Regelung wäre nicht nur Wikipedia, wo Millionen Aufnahmen von Bauwerken, Städten und Kunstwerken zu finden sind. Auch Internet-Phänomene wie die "Happy"-Welle Anfang letzten Jahres, als junge Leute von Berlin über Dresden bis Trier das Musikvideo "Happy" des Sängers Pharrell Williams in ihrer jeweiligen Heimatstadt nachtanzten, wären zum Beispiel betroffen.

Im Rechtsausschuss des EU-Parlaments fand Cavada mit seinem Ansinnen zwar zunächst eine Mehrheit, nach den heftigen Protesten wird sich das Plenum aber wohl dagegen entscheiden. Mittlerweile haben fast eine halbe Million Menschen eine Petition des Fotografen Nico Trinkhaus gegen Einschränkungen der "Panoramafreiheit" unterschrieben, außerdem weist ein Banner in der deutschen Wikipedia auf den fragwürdigen Änderungsantrag von Cavada hin. Das dürfte Wirkung zeitigen. Noch mal Glück gehabt.

Doch selbst, wenn die Vorschläge Cavadas also nicht in EU-Recht gegossen werden sollten, stehen sie exemplarisch für den Urheberrechts-Extremismus, der besonders die europäische Rechtslage prägt.

Alles verboten, was nicht ausnahmsweise erlaubt wird

Schon vor dem Internet am Smartphone war das Urheberrecht über die Maßen restriktiv und bevorzugte eine kleine Minderheit von Rechteinhabern auf Kosten der Allgemeinheit. Wie sonst ist eine Ausdehnung urheberrechtlicher Schutzfristen von 14 auf mittlerweile in der Regel über 100 Jahre erklärbar? Eine kleine Minderheit profitierte also - und der Nachteil für die Mehrheit war nicht groß genug für wirksame Proteste. Seit digitale Technologien aber praktisch jedem die weltweite Verbreitung von Fotos und Videos ermöglichen, ist das Urheberrecht endgültig nur noch eine einzige Einschränkung individueller Freiheit.

Ein zentrales Merkmal von offenen, liberalen Gesellschaften ist es, dass Verbote als Ausnahmen daherkommen. Prinzipiell ist alles erlaubt, was nicht explizit verboten ist. Es ist diese aufklärerische Errungenschaft, die wirtschaftliche Innovation, kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche Entwicklung ermöglicht. Das Urheberrecht folgt einer genau gegensätzlichen Logik. Im Urheberrecht gilt per Gesetz "Alle Rechte vorbehalten". Prinzipiell ist also alles verboten, was nicht vertraglich oder im Rahmen von gesetzlichen Schranken ausnahmsweise erlaubt wird.

Das ist, um es vorsichtig zu formulieren, ein erstaunlich restriktiver Ansatz für einen Rechtsbereich, der fast alle Formen von Rede-, Meinungs- und Kunstfreiheit erfasst: Egal ob Blogeintrag, Roman oder Handy-Video, alle diese Werke sind automatisch und umfassend auf Jahrzehnte hinaus urheberrechtlich geschützt.

Schon immer waren mit diesem weitreichenden Schutz Gefahren für kreative Prozesse und freie Meinungsäußerung verbunden. Schranken wie jene für Zitate und Parodien sollen deshalb verhindern, dass das Urheberrecht zur Unterdrückung von kritischer Auseinandersetzung mit bestehenden Werken zweckentfremdet wird. Vor allem aber ist es die für das Urheberrecht fundamentale Unterscheidung zwischen Ideen und deren konkreter Ausdrucksform als Werk, die Meinungs- und Kunstfreiheit sicherstellen soll. Der Plot eines Krimis oder ein Fotomotiv sind erst urheberrechtlich geschützt, wenn sie konkret als Drehbuch oder Fotografie vorliegen.

Wenn Ideen frei bleiben, ist der weitreichende Schutz ihrer konkreten Ausformung kein Problem, so die damit verbundene Überlegung - schließlich können andere Kreative denselben Plot und dasselbe Motiv in eigenen Worten oder eigener Einstellung realisieren.

Künstler im Bereich der Appropriationskunst, zu der auch die Pop Art Andy Warhols und Roy Lichtensteins zählt, stellten als Erste diese Argumentation infrage. Appropriationskunst lebt davon, vorhandene Werke in neue Kontext zu übertragen und sie mit neuer Bedeutung zu versehen. Ihre Wirkung und Bedeutung erzielt Appropriation dadurch, dass das Alte im Neuen erkennbar bleibt.

Private Fotos landen auf kommerziellen Plattformen

Obwohl bereits diese Kunst bestehende Schranken für Zitat und Satire gesprengt hatte, war die damit verbundene Herausforderung für das Urheberecht gering: Solange sich der Rechtsbruch auf die Nische der Avantgardekunst beschränkte, schien kein größeres Umdenken erforderlich zu sein. Und außerhalb dieser Nische beschränkte sich die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke auf private Sphären. Urlaubsfotos von Gebäuden und Kunstwerken schafften es bestenfalls ins Familienalbum, das Video von der Hochzeit verstaubte im Regal.

Internet und digitaler Technologien befördern hier eine doppelte Entgrenzung: Erstens nutzen mehr Menschen mehr Werke auf vielfältigere Weise, und zweitens werden diese völlig selbstverständlich öffentlich zugänglich gemacht. Private Fotos und Videos landen zunehmend auf kommerziellen Plattformen wie Youtube, Facebook und Flickr. Tausende Menschen tanzen zu Harlem Shake, Happy und Gangnam Style, nur um das Ergebnis auf Video zu bannen und ins Netz zu stellen.

Im 21. Jahrhundert sind wir nämlich alle Appropriationskünstler. Wir erstellen und teilen ständig Fotos und Videos, in denen Werke anderer nicht nur als urheberrechtlich erlaubtes, "unwesentliches Beiwerk" - wie es vom Gesetz gefordert ist - sondern an zentraler Stelle vorkommen. Natürlich vergnügen sich die Happy-Tänzer vor den schönsten Gebäuden und Kunstwerken ihrer Stadt. Genau das ist ja die Idee, beziehungsweise eine der im Internet allgegenwärtigen Ideen, die auf Einbindung, Verfremdung oder Vermischung bestehender Werke basieren.

Zur Person

Leonhard Dobusch, 35, forscht als Juniorprofessor für Organisationstheorie an der FU Berlin zur Urheberrechtsregulierung und bloggt bei netzpolitik.org.

Im US-Copyright gibt es die Regelung "Fair Use"

Wie es ja zum Beispiel auch bei Memes der Fall ist, also bei den mit Sprüchen versehenen Fotos und Videoschnipseln aus Filmen, die längst zum festen Bestandteil der Kommunikation in sozialen Netzwerken geworden sind. Oder bei Musik-Mash-ups, Klangcollagen aus fünf, zehn oder mehr verschiedenen Songs, die sich auf Youtube und Facebook großer Beliebtheit erfreuen, aber mangels Rechteklärung nicht gekauft und nicht im Radio gespielt werden dürfen. In allen diesen Fällen haben wir es mit kreativer Appropriation zu tun. Und für die ist im europäischen Urheberrecht bislang kein Platz.

Im US-Copyright gibt es hingegen mit der Regelung "Fair Use" schon heute ein Instrument, das dem Urheberrechtsextremismus der alten Gesetze und der Rechteinhaber einen Riegel vorschiebt. Anstatt spezifischer und unflexibler Schranken, erlaubt Fair Use die Nutzung von Werken Dritter immer dann, wenn die herkömmliche Verwertung eines Werkes nicht bedroht, öffentliches Interesse gegeben und ein neues Werk entstanden ist. Anstatt über die Einschränkung von Panoramafreiheit sollten die EU-Abgeordneten besser diskutieren, ob eine ähnliche Regelung nicht auch in Europa Voraussetzung für eine offen-digitale Gesellschaft ist.

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