Streit um "Mathilde" in Russland:Heilige haben keine Affären

Mit seinem Film "Mathilde" ist der russische Regisseur Alexej Utschitel zum Ziel nationalistischer Hetzer geworden. Nun versteht der stets staatstreue Künstler die Welt nicht mehr.

Von Julian Hans

Alexej Utschitel versteht bis heute nicht, wie ausgerechnet ihm dieser Ärger widerfahren konnte. Ihm, der nie den Konflikt gesucht hat. Dessen Filme großzügig vom Staat gefördert wurden. Auch sein jüngstes Werk, "Mathilde", hatte vom ersten Manuskript bis zum letzten Drehtag den Segen aller Instanzen! Noch immer ist der Regisseur überzeugt, dass sich das Ganze schnell aufklären werde; wenn nur der Film erst läuft, wenn die Leute mit eigenen Augen sehen. Dann werden sie verstehen. Dann wird der Albtraum ein Ende haben.

Utschitel empfängt in einem weißen Ledersessel bei der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja. Die Agentur ist so etwas wie das Stabsquartier für Moskaus globalen Kampf um die Deutungshoheit des Weltgeschehens und gegen Russophobie. Jedenfalls gegen das, was die russische Führung als Russenfeindschaft identifiziert. Man kann also nicht sagen, dass Utschitels Werk der internationalen Kritik in einem Untergrundkino vorgeführt wird.

Allerdings sieht man ihm die letzten Wochen an: Seine Augen sind gerötet, die Stimme matt, der ganze Mann hängt mehr im Sessel, als er sitzt. Utschitel hat Morddrohungen bekommen, ein Brandsatz traf sein Studio in Sankt Petersburg, Autos wurden angesteckt. Einen Moment stand sogar infrage, ob "Mathilde" überhaupt in die russischen Kinos kommt. Parlamentarier forderten ein Verbot, die Kinobetreiber fürchteten um ihre Sicherheit und die der Zuschauer, weil orthodox-patriotische Eiferer mit Anschlägen gedroht hatten.

Am 2. November läuft "Mathilde" auch in Deutschland an. Zu sehen ist ein etwas unschlüssiger Kostümfilm über die Liebschaft des jungen Nikolaus Romanow zu einer Ballerina mit einem herausragenden Lars Eidinger in der Hauptrolle als Thronfolger, der später Russlands letzter Zar werden sollte.

Hiesigen Zuschauer dürfte sich die Aufregung in Russland nicht ohne Weiteres erschließen. Die Affäre des Thronfolgers mit Mathilde Kschessinska ist historisch gut belegt. Seine Manipulierbarkeit ebenso; von Nikolaus II. sagten schon seine Beamten, was er denke, hänge immer davon ab, wer zuletzt mit ihm gesprochen habe. Das änderte nichts daran, dass er seine Mission im Erhalt des Absolutismus sah. Utschitel zeichnet den künftigen Zaren als einen Mann im Zwiespalt zwischen Pflicht und Leidenschaft; die Liebe zu einer Bürgerlichen ist nicht vereinbar mit dem Thron. Am Ende folgt der Zarewitsch dem Ruf des Vaterlandes.

Viel staatstragender geht es kaum. Das dachte sich wahrscheinlich auch der russische Kulturminister, der den Film großzügig finanzierte. Aber radikale Orthodoxe und Monarchisten sehen das anders. Für sie ist Nikolaus II. ein Heiliger, die Kirche wertet seine Ermordung durch die Bolschewiki als Märtyrertod. Und Heilige haben keine Affären.

So brach über Utschitel eine Welle national-patriotischen Hasses herein, an deren Spitze sich Natalja Poklonskaja setzte, die vor einem Jahr als Abgeordnete für die Kreml-Partei "Einiges Russland" ihre Rolle als Vorkämpferin für Tugend, Gott und den Zaren gefunden hatte. "Mathilde" ist für sie Frevel, Eidinger beschimpfte sie als schwulen Pornodarsteller und Satanisten.

Er sei Poklonsjaka sogar einmal persönlich begegnet, erzählt Utschitel, und habe sie gebeten, sich den Film doch wenigstens anzuschauen. Ihre Antwort ist typisch für den blinden Furor, mit dem Russlands nationalistisch-religiöse Hetzer gegen Kulturschaffende zu Felde ziehen: "Ich muss den nicht sehen. Mir ist auch so alles klar."

Streit um "Mathilde" in Russland: Alexej Jefimowitsch Utschitel, geboren 1951 im heutigen Sankt Petersburg, ist der Sohn des bekannten Dokumentarfilmers Jefim Utschitel. Seine Filme wurden vielfach ausgezeichnet.

Alexej Jefimowitsch Utschitel, geboren 1951 im heutigen Sankt Petersburg, ist der Sohn des bekannten Dokumentarfilmers Jefim Utschitel. Seine Filme wurden vielfach ausgezeichnet.

Lange Zeit rätselten die Russen, was genau die Kampagne gegen "Mathilde" bedeutete. In einem autoritären Staat entwickeln Menschen ein feines Gespür für Stimmungen und Signale. Besonders jene, die vom Staat abhängig sind: Politiker, Journalisten, Künstler, Regisseure, selbst Wissenschaftler. Hatte der Kreml den Fanatikern freie Hand gegeben? Aber warum der bislang wohlgelittene Utschitel?

"Warum führen sie ihn vor wie einen Schwerverbrecher?"

Dann wurde Kirill Serebrennikow verhaftet, ein international gefeierter Regisseur und noch vor ein paar Jahren ein Liebling der staatlichen russischen Kulturförderung. Die Ermittler werfen ihm vor, er habe Fördergelder für ein Theaterprojekt veruntreut. Die Oper Stuttgart musste jüngst seine Inszenierung "Hänsel und Gretel" ohne ihn auf die Bühne bringen, er sitzt in Hausarrest und hat absolutes Kontaktverbot.

Utschitel möchte daraus allerdings keinesfalls den Schluss ziehen, dass die Kunst in Russland in Bedrängnis sei. Die Verhaftung des Kollegen habe fraglos die Kulturszene erschüttert, räumt er ein. "Aber ich glaube nicht, dass das mit seiner Kunst zu tun hat", schließlich seien die Vorwürfe finanzieller Natur, man müsse die Ermittlungen abwarten, sagt er. Nur das harte Vorgehen kann er nicht nachvollziehen: "Warum führen sie ihn in Handschellen vor wie einen Schwerverbrecher?" Das gebe doch ein schlechtes Bild ab von Russland.

Was wirklich hinter dem Arrest von Serebrennikow und hinter der Kampagne gegen seinen, Utschitels, Film steht? Er bleibt ausweichend: "Vielleicht wird es das Leben nach einer gewissen Zeit zeigen. Die Gesellschaft ist ein bisschen überhitzt von religiösem Fanatismus. Die Leute folgen blind irgendwelchen Aufrufen."

Es gab immer Menschen, die das System noch verteidigten, als sie schon im Gefängnis waren

Im März 2014 hat Utschitel selbst einen Aufruf unterschrieben. Es war eine Art Liebesbrief der Kultur an den Staat: "In den Tagen, in denen sich das Schicksal der Krim und unserer Landsleute entscheidet, können die Kulturschaffenden Russlands nicht gleichgültig und mit kaltem Herzen zusehen", stand da. Geschichte, Kultur und religiöse Wurzeln verbänden Russland auf ewig mit der Krim. "Aus diesem Grund erklären wir unbeirrbar unsere Unterstützung für die Politik des russischen Präsidenten". Eine Woche später vollzog Wladimir Putin feierlich die Annexion.

85 Namen standen unter dem Brief. Einige erklärten, sie hätten nichts davon gewusst. Nicht so Utschitel. Es ist ihm ein bisschen unangenehm, darauf angesprochen zu werden. "Ich bin kein großer Freund kollektiver Briefe", druckst er. Ja, der Anschluss der Krim sei nicht ganz nach den Regeln abgelaufen. "Aber historisch gehört die Krim doch zu Russland."

Eine Verbindung zwischen dem patriotischen Rausch, der nach dem Anschluss losbrach, und den Angriffen auf "Mathilde" kann er nicht erkennen. Die heutige Abgeordnete Poklonskaja war als "Lolita-Staatsanwältin von der Krim" bekannt geworden, sie war eine Galionsfigur der Krim-Begeisterung, heute führt sie die reaktionäre Kampagne gegen sein Werk. War nicht auch er, Utschitel, Teil jener Welle, die ihn nun zu zermalmen droht? Auf keinen Fall, so Utschitel: "Poklonskaja handelt heute gegen den russischen Staat." Der habe schließlich sehr deutlich gesagt, dass an seinem Film nichts zu beanstanden ist.

Spielt es für die Rechten eine Rolle, dass er jüdischer Herkunft ist? Poklonskaja hatte subtil auf seine jüdische Abstammung hingewiesen, indem sie das Gerücht streute, er werde bald nach Israel auswandern. Utschitel bleibt ganz der treue Patriot: "Antisemitismus gibt es in vielen Ländern, nicht nur in Russland."

Ein Mann, der sich immer gut gestellt hat mit dem Staat, wird zur Zielscheibe einer Kampagne und versteht die Welt nicht mehr. Selbst, ja, gerade in den finstersten Epochen der Sowjetunion gab es Tausende solcher Schicksale: Menschen, die das System noch verteidigten, als sie längst in die Repressionsmaschine geraten waren. Hartgesottene Kommunisten, die absurde Verbrechen gestanden, um ihre Ideologie zu schützen. Ein Missverständnis musste das alles sein, es wird sich bald aufklären!

So ist es nur konsequent, dass Utschitel eine ganz andere Frage beschäftigt als jene nach den Urhebern der Angriffe: "Bleibe ich in den Augen der Staatsmacht der, der ich früher war?" Er war ein angesehener Regisseur, er konnte machen, was er wollte. Gilt das noch? "Oder wird man sagen: Vielleicht fangen wir mit dem lieber nichts an."

Utschitels Assistentin kommt ins Zimmer. "Alexej Jefimowitsch", sagt sie: "Wir können anfangen, wollen Sie vor dem Film noch ein paar Worte sagen?" Das Kino ist voll, Journalisten aus der ganzen Welt wollen verstehen, was den Skandal des Jahres ausgelöst hat. Der Regisseur zögert. "Ja, soll ich denn?", fragt er. Da wirkt er endgültig wie sein unentschlossener Held.

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