Streit um den Nachlass:Wem gehört Franz Kafka?

Ein urdeutscher Schriftsteller oder das jüdischste Dokument seiner Zeit? Eine US-Literaturwissenschaftlerin überlegt, wie Deutschland oder Israel mit dem Autor Staat machen könnte.

Lothar Müller

Auf einer Postkarte mit Datum "Prag, 7.Oktober 1916, Samstag" fragte Franz Kafka Felice Bauer, mit der er sich im Sommer zum zweiten Mal verlobt hatte: "Willst du mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin." Der Satz hatte etwas von einem Stoßseufzer. Denn Kafka hatte keinen Mangel an Leuten, die ihm sagten, was er sei.

Streit um den Nachlass: "Bin ich ein Cirkusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter sondern liege am Boden." Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philisophin Judith Butler geht in ihrem gerade erschienen Essay der Frage nach: "Who owns Kafka?"

"Bin ich ein Cirkusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter sondern liege am Boden." Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philisophin Judith Butler geht in ihrem gerade erschienen Essay der Frage nach: "Who owns Kafka?"

(Foto: AP)

Gerade hatte er in der Neuen Rundschau eine Kritik seiner Erzählung Die Verwandlung gelesen, der er den Bescheid entnehmen konnte: "K's Erzählkunst besitzt etwas Urdeutsches." Und außerdem hatte ihm sein Freund Max Brod das Manuskript eines Aufsatzes gezeigt, in dem er behauptete: "K's Erzählungen gehören zu den jüdischesten Dokumenten unserer Zeit."

Das waren sehr widersprüchliche Auskünfte. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Judith Butler zitiert die Doppeldiagnose und Kafkas Replik - "Bin ich ein Cirkusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter sondern liege am Boden " - in ihrem gerade erschienenen Essay Who owns Kafka? (London Review of Books, Vol. 33, Nr.5, 3March 2011).

Anlass des Essays ist der immer noch anhängige Prozess, den die Israelische Nationalbibliothek vor einem Gericht in Tel Aviv gegen die Töchter und Erbinnen von Ester Hoffe führt, die lange Jahre Sekretärin von Max Brod war und 2007 hochbetagt starb. Brod hatte ihr zum einen Kafka-Autographen geschenkt und zum anderen seinen eigenen Nachlass vermacht. Die Nationalbibliothek aber bestreitet, dass die Hoffe-Erbinnen über diesen Nachlass als private Eigentümer verfügen können.

Es gibt den Prozess, weil die Frage, "was ich eigentlich bin", die Kafka selbst zeitlebens unbeantwortet ließ, für seine Nachwelt zu einer Obsession geworden ist, die nicht nur seine Interpreten umtreibt. An Orten wie dem Familiengericht in Tel Aviv verwandelt sie sich in die ganz praktische Frage, wohin der Nachlass Kafkas eigentlich gehört. Er war ein Jude, sagen die Vertreter der Nationalbibliothek, darum gehört sein Nachlass nach Israel, und wenn es in den juristischen Dokumenten Ansatzpunkte gibt, das zu erreichen, dürfen wir sie nicht ungenutzt lassen.

Judith Butler kennt sich offenkundig in den juristischen Details des Falles nicht gut aus. So unterscheidet sie kaum zwischen der Schenkungsurkunde, mit der Max Brod seiner Sekretärin Kafka-Autographen überantwortete, und Brods Testament über seinen eigenen Nachlass. Sie hat aber ein sehr feines Ohr für die politischen Implikationen der Sätze, mit denen die Vertreter der Nationalbibliothek ihr Vorgehen publizistisch begründen.

Was meint eigentlich die Formel, Kafka "gehöre" dem jüdischen Volk, fragt sie. Meint sie den Vermögenswert oder meint sie das Werk des Autors? Und unterstellt die Formel zu Recht, dass das jüdische Volk allein durch den Staat Israel und also seine Nationalbibliothek repräsentiert wird? Judith Butler verneint beide Fragen. Ihr Essay ist eine Polemik sowohl gegen den Kulturzionismus wie gegen die Auffassung des Staates Israel als Staat allein "des jüdischen Volkes".

Lesen Sie auf der nächsten Seite, woran sich Kafka selbst orientierte.

Ikone der gelungenen Integration?

Der Staat Israel, sagt sie, repräsentiert nicht alle Juden. Es gibt Juden außerhalb Israels, die sich durch ihn nicht repräsentiert sehen. Das Exil ist für sie nicht etwas, aus dem jeder zurückkehren oder gar erlöst werden muss. Und wenn in Israel selbst der Staat nur die Juden repräsentieren will, repräsentiert er nicht die Gesamtheit seiner Staatsbürger, zu der auch Palästinenser und andere Nicht-Juden gehören. Beide Argumente überführt Judith Butler in den Verdacht, dass der Staat Israel durch die Aneignung von Manuskripten Franz Kafkas seine angeschlagene offizielle jüdische Identität stabilisieren will.

Der Verdacht lässt sich leicht aussprechen, aber schwer belegen. Jedenfalls spielt in der publizistischen Begleitmusik zum Prozess der Nationalbibliothek, die in der israelischen Presse vor allem von der Zeitung Haaretz intoniert wird, ein anderes Motiv die Hauptrolle: dass Manuskripte Franz Kafkas, die in letzter Sekunde vor den Nazis gerettet wurden, denen seine Verwandten zum Opfer fielen, jedenfalls an einen Ort nicht gehören: nach Deutschland. Ilse Hoffe hat 1986 das Manuskript des Process an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verkauft.

Ihre Töchter haben ihre Absicht signalisiert, den Nachlass Max Brods, der seinerseits keine Kafka-Autographen enthält, ebenfalls nach Marbach zu geben. Denn dort gebe es einen Sammlungsschwerpunkt deutsch-jüdischer Autoren, und Max Brod wollte gern mit seinen Freunden aufgehoben werden. Die publizistische Begleitmusik in Israel zum Prozess in Tel Aviv arbeitet an einer doppelten Beantwortung der Frage Kafkas, "was ich eigentlich bin". Sie sagt, wo Kafka hingehört und wo er auf keinen Fall hingehört.

Das wirksamste Argument ist dabei kein juristisches, sondern der Verweis auf den Holocaust. Dahinter aber steht ein zweites, das weit hinter den Holocaust zurückführt, mitten in die Diskussionen hinein, aus denen Kafkas Frage hervorging. Denn sie war ja keine Frage nach seiner ethnischen Identität als Staatsbürger, sondern zielte darauf, ob er ein deutscher oder jüdischer Autor sei. Der Rezensent der Neuen Rundschau hatte an seinem literarischen Werk das "Urdeutsche" abgelesen, nicht anders als Max Brod seine Diagnose: "Obwohl in seinen Werken niemals das Wort ,Jude' vorkommt, gehören sie zu den jüdischesten Dokumenten unserer Zeit."

Der Verdacht

Judith Butlers Essay lebt von einer doppelten Stoßrichtung des Verdachts, Kafka, der Autor der Nicht-Zugehörigkeit, solle nun von der Nachwelt endlich zu einem Autor werden, mit dem man Staat machen kann. Denn der Verdacht richtet sich nicht nur gegen den Kulturzionismus in Israel. Er richtet sich auch gegen das Kafka-Bild der Deutschen. Mit ihren überfeinen Ohren hört Judith Butler schon aus der Bereitschaft des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, den Nachlass Max Brods anzukaufen, eine politische Instrumentalisierung des Kerns der Autorschaft Franz Kafkas heraus.

Auffällig verliebt seien die Deutschen in die Klarheit und Reinheit der Sprache Kafkas, die Quelle aller Ungeheuer und Schrecken in seinem Werk - aber werde er dadurch nicht in einem Land, in dem die Kanzlerin Angela Merkel soeben das Scheitern des Multikulturalismus verkündet habe, zu einer Ikone der gelungenen Integration, zum Repräsentanten eines erfolgreichen Spracherwerbs?

Es ist ein Verdienst, wenn Judith Butler in Kafkas Werk die "Poetik der Nicht-Zugehörigkeit und des Nicht-Ankommens" aufspürt und so den interessierten Antworten auf die Frage, "was ich eigentlich bin", ins Wort fällt. Aber das Deutsch, in das Kafka als Autor hineinwuchs, war nicht die Nationalsprache. Und er selbst wurde zwar, wenn er im Zugabteil von einem österreichischen Mitreisenden ins Gespräch gezogen wurde, sogleich als jemand erkannt, der das Deutsche Prager Intonation sprach. Aber so wenig wie der Repräsentant der deutschen Nationalsprache war er der Repräsentant einer Minderheit im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn.

Das Deutsch, an dem er sich orientierte, war die Literatursprache Deutsch, die aus der klassisch-romantischen Epoche herausgewachsen war und an deren großen Autoren er sich schulte, während er zugleich die Zeitungen und die Literatur kleiner grüner Heftchen nicht verachtete.

Wenn er im Februar 1912 seinen Einleitungsvortrag zu einem jiddischen Rezitationsabend unter Mühen vorbereitete, dann resultierten auch diese Mühen aus der Frage, "was ich eigentlich bin" - der Westlichste der Westjuden oder doch ein Autor, der aus dem Jiddischen der Ostjuden schöpfen kann.

Die Antwort war grandios: man kann das Jiddische, sagte Kafka, in alle Sprachen der Welt übersetzen. Nur nicht ins Deutsche. So konnte er die Gesten aus dem jüdischen Theater übernehmen, nicht aber die Sprache.

Er hatte während der Vorbereitung des Vortrages wie berauscht Goethe gelesen und dabei nicht nur das "entsetzliche Wesen" gefunden, über das er einen Aufsatz schreiben wollte. Sondern einen Repräsentanten der deutschen Sprache, zu deren Autoren er auf seine Weise gehören wollte. Sein Werk "gehört" deshalb nicht automatisch nach Marbach. Es wird auch in Oxford gut betreut. Aber es spricht nichts dagegen, sondern viel dafür, dass Kafka-Manuskripte und Nachlass seines Freundes, des Kulturzionisten Max Brod, in Marbach studiert werden können.

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