Streit in Hohenschönhausen:Wenn AfD-Anhänger über Diktaturen aufklären

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Der Wachturm auf der Außenmauer der Stasigefängnis-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. (Foto: dpa)

In der Gedenkstätte Hohenschönhausen, einem ehemaligen Stasi-Knast, hat sich eine Diskussion entzündet: Wird die Aufarbeitung der SED-Diktatur von der AfD unterwandert?

Von Hannah Beitzer, Berlin

Gilbert Furian trägt die Tasche immer noch. Das Leder ist abgeschabt, die Farbe changiert zwischen hellbraun und grau. Im Überwachungsprotokoll der Stasi aus dem Jahr 1985 ist noch von einer "schwarzen Einkaufstasche" die Rede. Jeden seiner Schritte hat die Staatssicherheit der DDR damals akribisch notiert.

Aus der inzwischen also hellbraun-grauen Tasche zieht Furian 33 Jahre später auf dem Gelände des ehemaligen Stasi-Gefängnisses Hohenschönhausen einen Stapel Papier. Furian hat in der DDR Punks interviewt, die Interviews vervielfältigt, an Freunde verteilt und mit Hilfe seiner Mutter versucht, sie in den Westen zu schmuggeln. Der Versuch schlug fehl und es folgte das, was Furian heute so beschreibt: "Ich hatte eine kleine Affäre mit der Staatssicherheit hier am Ort."

Die "kleine Affäre" hieß: ein Jahr Haft in Hohenschönhausen, unzählige Verhöre, dann eine Verurteilung zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis. Bis heute kann er in seiner Wohnung keine geschlossenen Türen ertragen. Ansonsten aber gehe es ihm gut, sagt er und grinst - mit der leisen Ironie des Siegers.

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Der 73-Jährige ist einer von 50 ehemaligen Häftlingen, die in Hohenschönhausen Besuchern das Leben im Stasi-Knast erklären. Er berichtet von einem Landwirt, der sich mit einem Taschentuch am Lüftungsgitter seiner Zelle erhängte. Er berichtet von Ohrfeigen und Gebrüll. Und von perfiden Zersetzungsmethoden: Sport zu treiben war den Häftlingen zum Beispiel verboten. Besser, sie fühlten sich nicht wohl in ihrer Haut. 450 000 Menschen besuchen die Gedenkstätte im Jahr, etwa die Hälfte davon sind Schüler. Sie sollen hier die Schrecken der Diktatur kennenlernen - und so ein Bewusstsein für die Errungenschaften der Demokratie, für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit entwickeln.

Wie AfD-nah ist Hohenschönhausen?

Leider fielen ausgerechnet an diesem Ort Sätze, die in der deutschen Erinnerungskultur für Entsetzen sorgen: "Ist die Zahl sechs Millionen heilig?" zum Beispiel. Der Mann, der in Hohenschönhausen so über den Holocaust spricht, führte bis vor Kurzem Schülergruppen über das Gelände. Siegmar Faust, ehemaliger Häftling und DDR-Dissident, hatte in der Gedenkstätte nach einer Führung der Berliner Zeitung ein Interview gegeben, in dem er AfD-nahe Positionen vertreten und sich mitfühlend über den Holocaust-Leugner Horst Mahler geäußert hat. Weitere Zitate: "Bei der AfD finde ich niemanden, den ich als Nazi bezeichnen würde." Den Islam nannte er eine "Welteroberungsideologie".

Wie passt das zu einem Ort, der zu Demokratie und Toleranz erziehen will?

Probleme gab es auch im "Förderverein Gedenkstätte Hohenschönhausen", der zwar rechtlich von der Gedenkstätte unabhängig ist, aber bisher eng mit ihr zusammenarbeitete. Der Vorsitzende des Fördervereins, Jörg Kürschner, schreibt Artikel für die rechte Zeitung Junge Freiheit. Darin freut er sich über die neueste Buchveröffentlichung des umstrittenen Autors Thilo Sarrazin: "Die Belehrungsdemokratie ist längst an ihre Grenzen gestoßen, der verschweigende Erziehungsjournalismus in die Defensive geraten." Nach einer Rede von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel im Bundestag schrieb er: "Es knirscht. Und das Knirschen wird lauter. Bald werden es auch die übrigen Parteien nicht mehr überhören können." Das stimme ihn "hoffnungsvoll".

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Kürschner unterstützte auch die Aufnahme des AfD-Politikers Georg Pazderski in den Förderverein. Der Schriftführer des Fördervereins Hohenschönhausen, der ehemalige SPD-Politiker Stephan Hilsberg, kritisierte daraufhin in einem offenen Brief, Kürschner mache den Verein "zu einem Aufmarschplatz für die AfD". Das hält er vor allem aus zwei Gründen für problematisch: Erstens relativierten Vertreter der Partei regelmäßig die NS-Diktatur. Und zweitens verglichen sie die DDR mit der heutigen Bundesrepublik. Zuletzt rückte etwa AfD-Chef Alexander Gauland auf dem Parteitag im Juni Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Nähe von Erich Honecker und bezeichnete die Bundesregierung als "Regime".

Eine grobe Verharmlosung der DDR, findet Hilsberg. Die AfD verletze mit Aussagen wie diesen den antitotalitären Konsens Deutschlands. "Dieser ist aber die Grundlage jeder Art von demokratischer Aufarbeitungsarbeit, und damit auch der Arbeit der Gedenkstätte."

Auf Anfragen der SZ reagierten Kürschner und der Vorstand des Vereins nicht. Und AfD-Mann Georg Pazderski betont, er sei nur passives Mitglied des Fördervereins, das Engagement eher privater Natur: "Das Thema Aufarbeitung ist zu wichtig für parteipolitisches Gezänk." Er persönlich finde Vergleiche zwischen der DDR und der Bundesrepublik problematisch: "Die DDR war ein Unrechtsstaat." Aber in der AfD gebe es eben viele, die sich Sorgen machten über die Entwicklungen in Deutschland, die das Gefühl hätten: einmal erkämpfte Werte würden nun wieder eingeschränkt. Gerade in Ostdeutschland seien sie besonders wachsam.

Die Gedenkstätte Hohenschönhausen hat die Zusammenarbeit mit dem Förderverein inzwischen beendet. Und sie betont ihre parteipolitische Neutralität: Als öffentliche Einrichtung dürfe sie die AfD als verfassungsgemäße Partei gar nicht anders behandeln als andere.

Doch der Schaden ist da. Unter anderem, weil der geschasste Siegmar Faust in seinem folgenreichen Interview sagte, dass es unter den Zeitzeugen nur wenige gebe, die anders denken als er. Auch außerhalb der Gedenkstätte gibt es DDR-Bürgerrechtler, die nach Meinung ehemaliger Weggefährten zu sehr in die Nähe der AfD gerückt sind. Das bekannteste Beispiel ist die CDU-Politikerin Vera Lengsfeld, Unterzeichnerin der "Erklärung 2018".

"Solche Behauptungen sind frei erfunden"

Und in der Gedenkstätte selbst? Der Historiker Stefan Donth ist seit zwei Jahren Leiter des Zeitzeugenarchivs in Hohenschönhausen. Er kennt die in der Gedenkstätten aktiven Zeitzeugen gut. Man merkt ihm an, wie sehr ihm die Vorwürfe gegen seine Zeitzeugen nahe gehen. Er kann in seinem Büro, in dem sich die Akten auf dem Boden stapeln, aus dem Stehgreif zwei Stunden die unterschiedlichsten Geschichten der Opfer der SED-Diktatur erzählen.

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Dass viele der etwa 50 ehemaligen Häftlinge, die Gruppen in der Gedenkstätte über das Gelände führen, AfD-nah sein sollen, will er nicht glauben: "Solche Behauptungen sind frei erfunden und eine Unverschämtheit gegenüber den ehemaligen Häftlingen", sagt er. Die Gedenkstätte nehme sich viel Zeit, die ehemaligen Häftlinge auf die Führungen vorzubereiten. Sie gleiche zum Beispiel ihre persönliche Geschichte mit den Verhörprotokollen ab. "Ein wissenschaftliches Curriculum gibt genau vor, was an welcher Stelle der Führung zu sagen ist. Punktuell können die Zeitzeugen ihr persönliches Schicksal mit einfließen lassen", sagt Donth.

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Denn so wie sich die Schicksale der Opfer unterscheiden, unterscheiden sich auch die Führungen. Gilbert Furian zum Beispiel, der Mann mit der abgewetzten Tasche, ärgert sich darüber, dass im Einführungsfilm, den die Gedenkstätte allen Gruppen zeigt, ein Gerücht zur Sprache kommt, das sich seit Jahren in der Zeitzeugen-Szene hält: Die Stasi habe Häftlinge bewusst Strahlungen ausgesetzt, um bei ihnen Krebs auszulösen. Beweise dafür gebe es nicht, kritisiert Furian. Und: "Was man nicht beweisen kann, das darf man nicht behaupten." Auch, wenn es seit neuestem eine Partei im Bundestag gäbe, die gerne Fake News nutze, um ihre Feindbilder zu nähren. Er, der die Führung ansonsten in spöttischem Ton hält, ist hier ganz ernst.

Die Einhaltung des Curriculums und der wissenschaftlichen Standards der Führungen der Zeitzeugen werden regelmäßig überprüft, sagt Stefan Donth. Für sie gelte der Beutelsbacher Konsens, ähnlich wie für Lehrer. Das heißt: Sie dürfen aktuelle politische Themen ansprechen, müssen sich aber parteipolitisch neutral verhalten, also zum Beispiel keine Werbung für eine Partei machen. Sie dürfen Schülern auch nicht ihre Meinung aufzwingen. Und Sachverhalte, die kontrovers diskutiert werden, müssen sie auch so darstellen.

In Hohenschönhausen gebe es natürlich auch Grenzen, sagt Donth - etwa, wenn Äußerungen den Zielen der Gedenkstätte widersprechen. Die Stiftung fühle sich den Werten des Grundgesetzes verpflichtet, sei zudem weltoffen. "Das ist auch den ehemaligen Häftlingen ein Anliegen", sagt Donth.

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Die Gedenkstätte befragt die Zeitzeugen allerdings nicht zu ihrem parteipolitischen Hintergrund oder ihrer persönlichen politischen Meinung, sagt Zeitzeugenarchiv-Leiter Donth. Gerade an einem Ort mit dieser Geschichte dürfe auch nicht der Eindruck entstehen, die Stiftung schnüffle das Privatleben ihrer Zeitzeugen aus. Bei mehr als 20 000 Führungen pro Jahr habe es noch nie eine Beschwerde über AfD-Werbung während einer Führung gegeben. "Ich glaube: Wer am eigenen Leib erfahren hat, was ein Regime wie die SED-Diktaturen mit Menschen macht, der ist für gewöhnlich skeptisch gegenüber totalitären und autoritären Ideologien", sagt Donth.

"Es gibt teilweise Hassgefühle gegen die derzeitige Regierung"

Dem ehemaligen SPD-Politiker Stephan Hilsberg ist das nicht genug. "Die Gedenkstätte scheut die Auseinandersetzung mit dem Thema", sagt er. Er glaubt nicht, dass Kürschner und Faust Einzelfälle sind: "Und sie haben ihre Meinung auch nicht erst seit gestern." Rechte Gesinnung unter Opfern der SED-Diktatur habe es immer wieder einmal gegeben. "Mit dem Erstarken der AfD trauen sie sich jetzt, das lauter und deutlicher zu sagen." Und die anderen duckten sich allzu häufig weg.

Einzelfall oder grundlegendes Problem in der Szene also?

Ein Anruf bei Rainer Eckert. Der Historiker ist in der DDR als Regimekritiker vom Ministerium für Staatssicherheit verfolgt worden. Bis September 2015 war er Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, ist in zahlreichen Gremien und Verbänden aktiv. Von einer Unterwanderung der Szene durch die AfD will er nicht sprechen. Von bedenklichen Tendenzen schon. "Es gibt teilweise Hassgefühle gegen die derzeitige Regierung", sagt auch er. Ein Teil der SED-Opfer neige heute AfD-Positionen zu. "Ich wollte das selbst lange nicht wahrhaben." Aber erst kürzlich habe ein Vertreter der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) im Stacheldraht, dem Mitgliedermagazin der UOKG, Merkels Flüchtlingspolitik in harschen Worten angegriffen. Das habe in der Szene heftige Diskussionen ausgelöst, da sich einige an die Rhetorik der AfD erinnert gefühlt hätten.

Eckert und Hilsberg können aus ihren Gesprächen mit anderen Zeitzeugen auch Gründe benennen, warum die AfD trotz ihres problematischen Verhältnisses zur Erinnerungskultur für SED-Opfer attraktiv sei. Zum Beispiel empfänden einige sich im Vergleich zu den Opfern der NS-Diktatur als Opfer zweiter Klasse. Von der Elite der Bundesrepublik, die überwiegend aus dem Westen stamme, fühlten sie sich missachtet, gegängelt, bevormundet - und seien daher empfänglich für die AfD-Rhetorik von der angeblichen "Meinungsdiktatur".

Auch die kritische Haltung einiger Zeitzeugen zur Flüchtlingspolitik sei daraus erklärbar. "Wenn man sich ohnehin schon als Opfer zweiter Klasse fühlt, dann ist es immer schwer, wenn plötzlich noch eine Opfergruppe dazukommt", sagt Eckert. Vor allem, wenn der Eindruck entsteht: Die werden besser behandelt als wir.

Die Erinnerungsarbeit stecke in einem Zwiespalt, sagt Eckert: "Man darf natürlich niemals jemandem seine Erfahrungen als Opfer absprechen." Er ist auch dagegen, Menschen nur wegen einer AfD-Mitgliedschaft aus der Szene auszuschließen. Aber: Nicht jeder, der ein Opfer sei, sei deswegen auch geeignet, die Diktatur von damals wissenschaftlich und politisch aufzuarbeiten. Im Gegenteil: Häufig sei die Erinnerungsarbeit mit ihnen sogar schwieriger, weil so viele Emotionen und persönliche Erlebnisse im Spiel seien. "Viele Zeitzeugen sind inzwischen alt, sie fürchten um ihr Vermächtnis. Und reagieren umso heftiger, wenn sie sich nicht geachtet fühlen."

Hohenschönhausen plant Veranstaltungen zu Rechtsextremismus

Auch im Konflikt zwischen dem Schriftführer im Förderverein Stephan Hilsberg und dem Vorsitzenden Jörg Kürschner fielen harte Worte. "Er hat mir vorgeworfen, ich erinnere ihn an seinen Stasi-Offizier", sagt Hilsberg. Der Konflikt ist auch noch lange nicht ausgestanden. Der Vorstand des Fördervereins hatte auf Treiben seines Vorsitzenden Kürschner ein Ausschlussverfahren gegen den ehemaligen SPD-Politiker eingeleitet, weil er mit seinem Gang an die Öffentlichkeit dem Verein und der Gedenkstätte geschadet habe. Dann habe der Vorstand das Ausschlussverfahren dann in eine Rüge umgewandelt, berichtet Hilsberg. Er will weiterhin die Öffentlichkeit suchen. "Man darf Leuten wie Kürschner die Institutionen nicht überlassen."

Die Gedenkstätte sucht währenddessen ihren ganz eigenen Ausweg aus der Diskussion. Sie möchte Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in den kommenden Monaten zum Gegenstand ihrer Veranstaltungsarbeit machen, zum Beispiel indem sie Opfer rechter Gewalt aus der DDR einlädt. Und, so sagt es Stefan Donth: "Wir wollen noch mehr den weltoffenen Ansatz unserer Arbeit herausstellen." In der ersten Veranstaltung, die die Gedenkstätte für den 6. September plant, sollen syrische Frauen, deren Angehörige in den Gefängnissen der Assad-Diktatur verschwunden sind, auf ehemalige DDR-Häftlinge treffen. Dabei wird es auch um die Frage gehen, wie Staatsverbrechen in einer Demokratie aufgearbeitet werden sollen. Spannend, wer da was von wem lernen wird.

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