Street-Art in Dakar:Auf der Mauer

Street-Art in Dakar: Graffiti-Wand mit Botschaft: Frauen können ein Fahrrad reparieren. Das rührt an Geschlechterklischees.

Graffiti-Wand mit Botschaft: Frauen können ein Fahrrad reparieren. Das rührt an Geschlechterklischees.

(Foto: Jonathan Fischer)

Dakar ist das neue Mekka für Street-Art und Graffiti. Die Wandkunst hat in der senegalesischen Hauptstadt eine immense soziale Bedeutung - und dient auch als Nachrichtendienst.

Von Jonathan Fischer

Alle paar Meter schüttelt Mamadou Boye Diallo ein paar Hände. Wie läuft's? Abklatschen. Winken. Der 31-Jährige in Patchwork-Jacke und Sandalen kennt jeden hier in Medina, einem der ältesten Viertel von Dakar: den Straßenkünstler, der aus Holz und Kuhhörnern Stühle baut. Die Mütter, die im Hof Wäsche waschen. Oder den alten Mann im Plastikstuhl: "Das ist Youssou N'dours Vater, der chef du quartier." Diallo, den hier alle Modboye nennen, ist selber eine Art Viertel-Chef - zumindest was die Kunst betrifft. Seit er 2010 zusammen mit Künstlerkollegen "Yataal Art" gegründet hat, leuchten viele der alten Gemäuer hier bunt, prangen zwischen abgerockten Wohnhäusern und Wäscheleinen raffiniert gestaltete Murals, Wandmalereien. Sie bringen Kunst zu Menschen, die noch nie eine Vernissage besucht oder ein Museum von innen gesehen haben.

Modboye führt durch Medina wie ein Museumsdirektor durch eine penibel kuratierte Werkschau. Tatsächlich haben sich neben lokalen Hip-Hop-Matadoren wie Dix Milles Problémes auch Nordafrikaner, Franzosen, Amerikaner auf den Mauern verewigt. Dank der Verbindungen von "Yataal Art" zur weltweiten Sprühergemeinde ist die senegalesische Hauptstadt zum neuen Mekka der Graffitikunst aufgestiegen. New York, London, Berlin, das war mal. Heute pilgern Graffiti- und Street-Art-Künstler aus aller Welt nach Dakar, um mit senegalesischen Kollegen zusammenzuarbeiten. "Es geht uns darum, die Bevölkerung zu sensibilisieren", sagt Moodoye. Die Botschaften sind deutlich: Gesichter mit Geldscheinen als Mund-Nasen-Maske. Ein Kleinkind, das ein Boot mit Flüchtenden aus dem Meer zurückzieht. Oder auch Frauen, die ein Fahrrad reparieren - eine Herausforderung an Geschlechterklischees.

"Schau dich um, und du siehst überall unsere eigenen Traditionen"

Warum aber findet Graffiti, eine Säule des Hip-Hop, gerade in Westafrika ein zweites Leben? "Unsere Murals wollen mehr ausdrücken als Ästhetik", erklärt Modboye. "Wir machen keine importierte Straßenkunst. Schau dich um, und du siehst überall unsere eigenen Traditionen." Fast jeder Laden wirbt mit einem handgemalten Schild. Köpfe mit Haartrachten schmücken den Friseursalon. Gemalte Ziegen und Feuer prangen vor dem Straßengrill. Oder gemalte X-Box-Spieler auf der Wand des Internet-Cafés. Modboye führt in einen Hauseingang. Sobald sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, erkennt man Hunderte von Kohlezeichnungen an den Mauern. Stilisierte islamische Prediger oder Marabouts. Aber auch Fabelwesen zwischen Tier und Mensch: "Das stammt von Pape Diop, einem Verrückten. Seit vielen Jahren bemalt er Wände, alte Holzbretter und Pappen im ganzen Viertel." 4000 von Diops Art-Brut-Zeichnungen hat Modboye bereits dokumentiert und sie unter anderem im Institut français in Dakar und Paris ausgestellt.

Street-Art in Dakar: Boye Diallo, genannt Modboye. Der ehemalige Breakdancer und Sprüher versteht sich als Kurator der Straßenkunst in Medina, Dakars ältestem Viertel.

Boye Diallo, genannt Modboye. Der ehemalige Breakdancer und Sprüher versteht sich als Kurator der Straßenkunst in Medina, Dakars ältestem Viertel.

(Foto: Jonathan Fischer)

Modboye, ein ehemaliger Breakdancer und Sprüher, der irgendwann als Flyer-Verteiler in der Galerieszene Dakars landete, sieht sich heute vor allem als: Kurator. Fernseh- und Videoteams, die über Dakar berichten, fangen hier gerne einen, nun ja, "exotischen" Straßenflair zwischen Kunst und Armut ein. Die New York Times berichtete vom lebendigen "Freilichtmuseum" Medina. Dabei ist der Graffiti-Boom für Malick Ndiaye, den künstlerischen Direktor der Biennale Dakar 2022, der Beweis, dass "Kunst in Afrika immer auch einen sozialen Auftrag hat". Weil sie den Alltag reflektiert. Anders als im Westen, wo Street-Art oft nur die Deko für ein vollklimatisiertes Bildungsbürgertum abgibt, gehören die Gerüche von offenem Kohlefeuer, Waschwasser und Ziegenscheiße dazu. Dafür gebe es, so Modboye, kaum Beschwerden wegen Vandalismus: "Im Gegenteil. Die Bewohner erlauben uns gerne, ihre Mauern zu bemalen. Sie schätzen unsere Arbeit."

Street-Art in Dakar: Die Integration von Rollstuhlfahrern und Behinderten in die Gesellschaft gehört zu den dringenden sozialen Themen.

Die Integration von Rollstuhlfahrern und Behinderten in die Gesellschaft gehört zu den dringenden sozialen Themen.

(Foto: Jonathan Fischer)

Den zwei Dutzend Künstlern und rund hundert Sympathisanten, die sich zu "Yataal Art" zusammengeschlossen haben, geht es allerdings um mehr. Gentrifizierung und steigende Mieten gefährden in Medina den Verbleib der alteingesessenen Bevölkerung. Die Großeltern der meisten hier, sagt Modboye, seien noch im südlich gelegenen Plateau aufgewachsen. Aber dann habe die Kolonialregierung sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins neugeschaffene Medina verfrachtet, um Platz für die Behörden und Geschäfte der Weißen zu schaffen. Heute drohe seinem Viertel ein ähnliches Schicksal. Investorenarchitektur statt alter Gemäuer. "Wir verteidigen unser Viertel. Wenn jemand eines der Graffiti entfernen will, gehen die Jungen hier auf die Barrikaden."

Street-Art dient zudem als Wandzeitung für inoffizielle Nachrichten. Etwa auf der Mauer um das Fußballstadion von Medina: Docta, Graffiti-Pionier in Dakar und ganz Westafrika, hat darauf mit Kollegen einige der dringendsten Gesellschaftsthemen Senegals porträtiert: die illegale Migration per Piroge Richtung Europa. Die Integration von Rollstuhlfahrern und Behinderten in die Gesellschaft. Oder nach den regierungskritischen Demonstrationen vom März 2021: die Gesichter und Namen der von Polizeikugeln getöteten Jugendlichen.

Street-Art in Dakar: In einem Land mit mehr als 50 Prozent Analphabeten haben solche Mauerbilder auch einen Nachrichten- und Aufklärungswert.

In einem Land mit mehr als 50 Prozent Analphabeten haben solche Mauerbilder auch einen Nachrichten- und Aufklärungswert.

(Foto: Jonathan Fischer)

"Klar möchte die Regierung einige meiner Graffiti am liebsten übermalen lassen", sagt Docta. "Aber wir Graffiti-Künstler gelten als Sprachrohre der Bevölkerung. Wenn ich drohe, die Medien zu informieren, lassen sie es lieber stehen." Der 47-Jährige mit dem hochgebundenen Turbantuch empfängt in seinem Atelier im Centre Culturel Blaise Diagne. Ein paar Leinwände, Kisten voller Sprühdosen, an die Wand gepinnte Cover senegalesischer Hip-Hop-Bands, ein Apple-Computer. Docta, der eigentlich Amadou Lamine Ngom heißt, hatte 1994 die erste und bis heute berüchtigtste Graffiti-Crew Afrikas gegründet. Doxandem Squad nennt sie sich. Zu deutsch: Die Wanderer. Zwanzig Jahre später sollte er mit Kollegen auch das Festi Graff, eine Biennale für Graffiti, aus der Taufe heben, Vorbild für ähnliche Veranstaltungen in Kongo, Togo, Benin und Kamerun.

Die Graffiti-Kollegen aus dem Westen kopieren? Kam nicht in Frage

Angefangen hatte alles Ende der Achtzigerjahre: Das senegalesische Fernsehen brachte damals eine Dokumentation über Graffiti, in der die Sprüher als Vandalen, ihre Werke als Abklatsch westlicher Dekadenz verteufelt wurden. Docta war dennoch angefixt. Im Kreis seiner Teenagerfreunde studierte er zerknitterte Ausgaben der amerikanischen Hip-Hop-Zeitschrift The Source, die Reisende aus dem Westen mitgebracht hatten. Die für Graffiti reservierten Seiten hatten den Status von heiligen Schriften. Aber die Kollegen aus dem Westen kopieren? Gar den eigenen Namen preisen? "Dieses Ego-Ding funktionierte nicht für uns. Stattdessen passten wir uns an die senegalesische Realität an."

Sein erstes Graffiti hat Docta 1987 an das Haus seiner Großmutter in Guediaweye gemalt. Ein Bezirkskomitee spendierte den Jugendlichen die Farben, unter der Voraussetzung, "dass unsere Fresken ehrenwerte Personen, also einen verdienten Sportler oder einen respektierten Älteren abbilden". Docta wählte seinen Großvater. Er war einer der Intellektuellen des Viertels, verteilte Bücher an die Kinder und forderte sie auf, das Gelesene zu diskutieren. Der Sprüher säuberte erst einmal die Wand, entfernte Unrat. Das habe etwas mit Respekt zu tun. Respekt vor den Älteren. Respekt vor Tradition und Religion. In der Folge adoptierten die Bewohner des Viertels das Werk. Und hielten den Platz davor - im vermüllten Dakar ein kleines Wunder - penibel sauber. Docta wurde nicht nur als Künstler wahrgenommen, sondern auch als Chronist der Viertel-Geschichte.

Dakar leuchtet seitdem auf ganz eigene Weise: Hier kollidiert die afrikanische Idee des Kollektivs mit unserer westlichen Idee von Kunstmarkt und der Überhöhung von Individualität. Wenn Docta sagt, er beziehe seine Kraft aus der Gemeinschaft, dann meint er nicht nur sein Viertel - sondern auch die islamische Mouriden-Bruderschaft, der er angehört, umarmt er die Welt aus einer spirituellen Perspektive. Viele der besten Graffiti in Dakar drehen sich folgerichtig um Gemeinschaftsbelange - oder propagieren, etwa im Auftrag einer internationalen Organisation wie der Unesco, Bildung und Gesundheit. Covid etwa ist in einer Flut von Murals verewigt. Was könnte in einem Land mit mehr als 50 Prozent Analphabeten auch effektiver aufklären?

"Im Westen", sagt Docta, "suchst du dir aus, Künstler zu sein. Wir aber sagen: Es ist die Gesellschaft, die mir meine Rolle verleiht." Das schließt manchmal selbst diejenigen ein, die im Westen per Sonderdezernat und Strafbefehl den Straßenkünstlern das Leben schwer machen. "Ihr Deutschen kennt das nicht." Der Pate des afrikanischen Graffiti klatscht amüsiert in die Hände. Als er zusammen mit einem Sprüher aus Hamburg die Außenmauer eines Gefängnisses bemalt habe, sei von der anderen Straßenseite ein Polizist auf sie zugekommen. "Mein Kollege rannte in Panik davon. Der Polizist aber wollte nur eine Zigarette. Wir rauchten zusammen, betrachteten das entstehende Kunstwerk, dann hob er anerkennend die Daumen: Weiter so!"

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