Süddeutsche Zeitung

Kolumne Mediaplayer:Kalte Schauer, angespanntes Kribbeln

Der Streamingdienst Mubi hat eine tolle Schiene für Kurzfilme. Dort gibt es aktuell Werke von Peter Strickland, Yorgos Lanthimos und Jim Cummings zu sehen.

Von Sofia Glasl

Im Kino überspringen Bild und Ton manchmal den Verstand. Dann fahren sie direkt in Mark und Bein oder ergießen sich über den Rücken bis in die Fingerspitzen, als Nervenblitze, Schauer und Kribbeln. Ihre Unmittelbarkeit macht diese Empfindungen schwer greifbar. Der britische Regisseur Peter Strickland erforscht in seinen Filmen oft genau diese Form der Affekte und setzt so zum Beispiel auf die Suggestivkraft des Filmtons, wenn er in "Berberian Sound Studio" (2012) den Sounddesigner Gilderoy einen Horrorfilm vertonen lässt, dem Zuschauer jedoch den Blick auf Filmbilder verwehrt. Das schiere Grauen springt direkt ins Kopfkino des Publikums und wirkt nach.

In einem neuen Kurzfilm führt Strickland seine synästhetischen Experimente nun weiter: In "Cold Meridian" filmt eine Influencerin sich dabei, wie sie Geräusche erzeugt, die in ihrem Publikum unwillkürliche Kribbelempfindungen auf der Kopfhaut auslösen sollen, sogenannte "Autonomous Sensory Meridian Responses" (ASMR). Videos wie dieses sind tatsächlich seit knapp zehn Jahren ein Online-Trend.

In "Cold Meridian" liegt die Frau mit dem Kopf über einem Friseurwaschbecken, zwei Hände shampoonieren ihre Haare in langsamen Kreisbewegungen ein. Das kruschelnd-beruhigende Rauschen und die mechanischen Bewegungen haben tatsächlich einen entspannenden Effekt, den Strickland mit dem grobkörnigen 16- und 8-Millimeter-Schwarz-Weiß-Material seines Films nachempfindet. In Gegenschnitten beobachtet er Zuschauer, die sich das Video online ansehen und verschränkt so Affekt und Beobachtung zu einer Versuchsanordnung.

Dieser beeindruckende Sechsminüter hatte im September auf den Filmfestspielen von San Sebastián Premiere und wäre womöglich in der Versenkung verschwunden, hätte der Streaminganbieter Mubi nicht seit einiger Zeit eine eigene Schiene für Kurzfilme namens "Brief Encounters". Dort finden sich regelmäßig aktuelle Festivalhits, in der Bibliothek auch Klassiker wie Chris Markers Science-Fiction-Fotoroman "Am Rande des Rollfelds" (1962).

Kurzfilme haben ungerechterweise den Ruf einer studentischen Fingerübung

Das ist sehr begrüßenswert, denn damit bekommt eine im Mainstream oft vernachlässigte Gattung eine Plattform, die sie mehr als verdient. Jenseits von Festivals haben Kurzfilme kaum noch Chancen auf Sichtbarkeit, da nur wenige Fernsehsender feste Sendeplätze dafür vorsehen und die Praxis des Vorfilms auch in den Programmkinos nicht mehr gepflegt wird. Sie haben daher ungerechterweise den Ruf der studentischen Fingerübung auf dem Weg zum "richtigen" Film.

Nicht selten sind es jedoch Kurzfilmexperimente, die der Filmsprache zu neuen Stilmitteln verhelfen und jenseits der großen Geste die visuelle und emotionale Lupe ansetzen, wie es Strickland tut. Kurzfilme sind also auch für etablierte Künstler die Möglichkeit, Ideen auszuprobieren. Der griechische Filmemacher Yorgos Lanthimos geht in seiner Vignette "Nimic" dem Unbehagen nach, das sich bei einem New Yorker Cellisten einstellt, als eine Frau ihm aus der U-Bahn folgt und sein Leben zu usurpieren droht. Mechanische Kameraschwenks und Fischaugenobjektive machen seine Paranoia visuell greifbar, obwohl dieser scheinbar sich viral übertragende Identitätsdiebstahl unerklärlich bleibt.

Dass sich aus den technischen wie erzählerischen Experimenten der Kurzfilme auch Langfilme entwickeln können, zeigt der amerikanische Filmemacher Jim Cummings. In seinem Spielfilm "Thunder Road" baut er seinen gleichnamigen Kurzfilm überraschend kunstfertig aus, behält aber die Grundidee als Herzstück des Films nahezu unverändert bei. Im Kern geht es ums Fremdschämen. Cummings selbst spielt den Polizisten Arnaud, der auf der Beerdigung seiner Mutter sichtlich angegriffen und am Rande des Nervenzusammenbruchs zu Bruce Springsteens Song "Thunder Road" tanzt und singt.

Die voll besetzte Kirche reagiert ungläubig und richtet schamlos die Handykameras auf ihn. Cummings reizt diesen Effekt in einer knapp 13-minütigen Plansequenz bis aufs Äußerste aus und treibt auch das Publikum in einen Zustand der Entgeisterung, immer schwankend zwischen peinlich berührtem Loslachen und dem Bedürfnis, sich zu schütteln. Die Handlung des Langfilms nimmt diesem quälenden Gefühl die äußerste Konsequenz, macht jedoch aus dem armen Tropf Arnaud eine psychologisch nachempfindbare Figur - und somit auch die Entwicklungsarbeit des Filmemachers sichtbar.

"Nimic" ist seit dem 27.11. auf Mubi.com zu sehen, "Cold Meridian" vom 11.12. an und "Thunder Road" ab dem 21.12. Der Kurzfilm "Thunder Road" ist kostenlos auf Vimeo zu finden.

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