Klassik:Chamäleon des Klangs

Filme, Bücher, Mode: Coco boomt

Igor Strawinsky bei einer Probe 1965 in London - im Alter entdeckte er moderne Klangwelten für sich.

(Foto: UPI/picture alliance / dpa)

Das Musikfest Berlin entdeckt furios Igor Strawinskys amerikanisches Alterswerk.

Von Wolfgang Schreiber

Sogenannte Alterswerke großer Künstler sind manchmal die Restposten abgeklärter Erschöpfung, oder sie offenbaren den alterswilden Mut zur Reduktion, zur Metamorphose. Darüber wird gerätselt - Tizian, Verdi, Picasso, Strawinsky ernteten spät ihre schönsten Früchte. Spätwerke, beschrieb einst Theodor W. Adorno den "letzten" Beethoven, seien nicht reifen Früchten gleich, "nicht rund, sondern durchfurcht, gar zerrissen". Ihnen fehle "die Harmonie der klassizistischen Ästhetik". Fatales Fazit: "In der Geschichte von Kunst sind Spätwerke die Katastrophen." Das Musikfest Berlin versucht gerade, nach der extravaganten Eröffnung durch Heiner Goebbels' "A House of Call" (SZ vom 1.9.), den späten Strawinsky auszuleuchten, so gründlich wie nirgendwo sonst.

Die Katastrophe in Tönen freilich hatte der Russe Igor Strawinsky (1882 - 1971) schon als Dreißigjähriger in die Welt gesetzt: Mit dem brutalen Frühlingsopfer "Le sacre du printemps" entfachten er und Choreograf Sergej Diaghilew den frühen Jahrhundertskandal von Paris. Strawinsky etablierte sich dort als genialer Paradiesvogel. Für den Komponisten Claude Debussy war er "ein junger Wilder, der aufregend laute Krawatten trägt, den Frauen die Hände küsst und ihnen auf die Füße tritt. Wenn er alt ist, wird er unerträglich sein..."

Falsch! Wie sonst nur Picasso zeigte sich sogar der betagte Strawinsky als das Chamäleon der Verwandlung von Formen, Stilen, Klanggesten. Hatte der junge Komponist in Frankreich all seine Eroberungen im Retrostil des Neoklassizismus vollstreckt, änderte er spektakulär Technik und Tonfall seiner Musik, nachdem er 1939 in die USA ausgewandert und amerikanischer Staatsbürger geworden war. Fieberhaft musterte der "Amerikaner" Strawinsky jetzt die ganze Historie der Kunstmusik, grub die Renaissance- und Frühbarockmusik aus und suchte ferner die Bekanntschaft mit Europas damaliger Avantgarde.

Kaum zu glauben, dass ein 70-Jähriger die Geheimnisse der Zwölfton- und Reihentechnik Arnold Schönbergs und seines Schülers Anton Webern erforschen konnte, die er frei adaptierte. Und dann auch noch die Noten der ganz jungen, jeder Werktradition abschwörenden Komponistengeneration untersuchte, allen voran Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. "Stravinsky demeure" dekretierte bewundernd der Innovator Boulez 1951 - Strawinsky bleibt.

Der späte Komponist setzte auf Kompression von Ton und Geist

Der Universalist Strawinsky, lobpreist ihn der Berliner Festival-Intendant Winrich Hopp, "wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ikone eines europäischen Lebens, das vom vorrevolutionären Russland über die beiden Weltkriege bis hin zur Zeit des Kalten Krieges reichte".

Das Musikfest ist die Plattform für große Orchester, denen der Intendant die Programme seines Konzepts nicht diktiert, doch empfiehlt. Also spielte das Concertgebouworkest Amsterdam unter Daniel Harding Debussys "La Mer", aber dazu, mit intellektueller Brillanz, Strawinskys letzte Tanzkomposition "Agon", 1957 komponiert für George Balanchines New York City Ballet. Kein Handlungsballett wie "Feuervogel" oder der "Sacre", sondern zwanzig Minuten kontrapunktisch komprimierte Musik harter reiner Klangfarben- und Körperfiguren. Nachvollziehbar beim fordernden Hören wird Strawinskys Bekenntnis, er wisse, "dass Teile meines Agon dreimal so viel Musik enthalten wie manches andere meiner Werke von gleicher Dauer".

Ist das wirklich das Werk eines 78-Jährigen?

Kompression von Ton und Geist. Wer die späten, selten gespielten, dem leichten Verständnis abholden Kompositionen Strawinskys einmal gebündelt im Konzert hört, glaubt oft, seinen Ohren nicht zu trauen. Ist das knappe, glasperlenspielhaft-abstrakte Klavierkonzert "Movements" des 78-Jährigen nicht doch ein frühes Werk von Pierre Boulez, illuminiert gespielt von Tamara Stefanovich und dem von Sir George Benjamin dirigierten Mahler Chamber Orchestra? Wie anders, raffiniert kontrastreich, ja polternd aggressiv das 1924 entstandene Konzert für Klavier und Blasinstrumente, das dieselbe Pianistin blitzend virtuos bewältigt.

So viel der für viele eher fremden Stücke Strawinskys - im Gegensatz zu seinen Werkberühmtheiten - erklingt selten in den Konzerthallen. Das Musikfest Berlin (noch bis 20. September) rückt ihn glänzend nach vorn. Und geschenkt: Kirill Petrenko und Francois-Xavier Roth werden das Bekannte dirigieren, den "Feuervogel" und den "Sacre", Robin Ticciati aber Strawinskys Allerletztes, die kurzen zwölftönigen "Requiem canticles", aufgeführt bei Strawinskys Begräbnis auf der Friedhofsinsel San Michele seiner Mythenstadt Venedig.

Am schlüssigsten, kühnsten ist der späte Strawinsky des Rundfunk-Sinfonieorchesters unter Vladimir Jurowski. Der dirigiert, intellektuell engagiert, neben dem Klavier-Bläserkonzert die fünfminütig großbesetzten Variationen im Webern-Stil von 1964, gläsern "Aldous Huxley in memoriam". Und die fast unbekannt gebliebene geistliche Ballade "Abraham und Isaak", nach Strawinskys Jerusalem-Reise 1962 dem Volk Israels zugedacht, dort uraufgeführt. Wie Bariton Georg Nigl die extremen rhythmischen und melodischen Akzente und Sprünge bewältigt, Verse des Genesis-Kapitels 22 aus dem ersten Buch Mose unter Hochdruck setzend, entfacht atemlose Bewunderung. Nicht nur für den Sänger, auch für ein Alterswerk von unversiegter Lebenskraft.

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