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Strauss-Kahn: Literatur und Wirklichkeit:Stelldichein im Luxuskämmerchen

In keinem Land der Welt legen Staatsmänner so großen Wert darauf, als Literaten in die Geschichte einzugehen, wie in Frankreich. Dominique Strauss-Kahn spielte den Roman lieber gleich selber. Kein Wunder, dass die Stammtische vibrieren.

Ina Hartwig

Was dem politischen Paris wie eine tiefe Identitätskrise erscheint, wird in Frankreich auf dem Land mit etwas anderen Augen betrachtet. Dort scheint man nicht unglücklich darüber zu sein, dass die Arroganz der Mächtigen aus der fernen Hauptstadt mit der Verhaftung Dominique Strauss-Kahns einen weiteren schweren Knacks bekommen hat.

Ein Restaurantbesitzer aus dem Burgund berichtet, dass François Mitterrand regelmäßig mit seinem Tross bei ihm eingefallen sei, sich königlich habe beköstigen lassen und dann wieder abfuhr - ohne zu bezahlen. Derselbe Mitterrand, ein Mann der Feder, behauptete: "Ich brauche keine Idee von Frankreich. Ich lebe diese Idee." Früher hieß das mal: "L'État, c'est moi."

Meistens wird übersehen, dass Flaubert mit seinem legendären Ausspruch "Emma Bovary, das bin ich" auf die Vorlage des Absolutismus anspielte. Pikante Ironie: In kaum einem Land der Welt legen Staatsmänner so großen Wert darauf, als "Literaten" in die Geschichte einzugehen. Als der frühere konservative Präsident Valéry Giscard d'Estaing vor einigen Jahren in die Académie française gewählt wurde, wofür er offenbar alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung gesetzt hatte, ging jedoch ein Murren durch die Medien. Allzu mittelmäßig sei das Geschreibsel des Aristokraten aus einer der ältesten Familien des Landes.

Nun hat DSK sich nicht als Möchtegern-Literat hervorgetan - er spielte den Roman lieber gleich selber. Welche "Idee" Frankreichs hätte er wohl "gelebt" - wäre er, wie viele hofften, der zweite sozialistische Präsident der Fünften Republik geworden? Den Roman, dem er im konkreten Fall nacheiferte - mit zeitgenössischen Ingredienzen versehen -, könnte "Die Philosophie im Boudoir" heißen oder auch "Die Verbrechen der Liebe", nach Titeln von Büchern des Marquis de Sade. Ein luxuriöses Hotelzimmer als Boudoir, das leuchtet ein.

Der entscheidende Makel aus Sicht des Protagonisten ist, dass jene Epoche offenbar zu Ende geht, in der man noch ein Doppelleben haben durfte, ohne dafür bestraft zu werden. Das nicht gespürt zu haben, war der "Fehler" des wegen Vergewaltigung auf dem feindlichen Schauplatz Amerika angeklagten Mannes.

Dass sich DSKs Macht binnen weniger Stunden in Ohnmacht verkehrte, dürfte für die französische Elite der eigentliche Skandal sein. Nicht vorgesehen war, dass Untertanen, ob Restaurantbesitzer oder Zimmermädchen, die Spielregeln aufkündigen. Der goldgerahmte Spiegel ist zerbrochen, in dem das Imaginäre der Macht gedieh.

In de Sades Universum ist das Verbrechen die Quelle der Lust; das junge, unschuldige Mädchen, das in den Libertinismus eingeführt wird, lernt den physischen Schmerz schließlich als Wonne schätzen. Hat sie den Übergang geschafft von der Tugend ins Reich der Libertins, dann ist sie eine Heldin. Weigert sie sich, erntet sie Spott und Hohn. "Liebe" spielt nicht die geringste Rolle dabei, sondern verbale Vereinbarungen, eben "Philosophie". Kopf und Körper befinden sich im Dialog, die Seele existiert nicht. War es nicht die amerikanische Intellektuelle Susan Sontag, die das pornographische Denken als im Kern "komisch" bezeichnete?

Wir wissen nicht, was DSK in jenem Hotelzimmer des New Yorker Sofitel wirklich getan hat; die Phantasie aber ist längst explodiert. Und zwar die pornographische Phantasie, die in Frankreich ein hohes Ansehen genießt, und dies gleich im doppelten Sinne: für die intellektuelle Selbstdefinition, und als Abgrenzung gegen die Prüderie.

Im französischen Geistesleben nimmt der entfesselte Sexus, der Rausch, die Orgie, die Überschreitung als antibürgerliche, antiklerikale, als poetisch-revolutionäre Kraft einen festen Platz ein. Nichts ist für die Pariser Intelligenzia abschreckender als Prüderie.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum sich die starre Erotomanie in Frankreich so hartnäckig hielt.

Dabei ist das Land der selbst ernannten Verführer zugleich ein Land der Muttersöhnchen. Eine WG-Kultur hat sich in den französischen Städten nicht entwickeln können, die Familien halten die Heranwachsenden in ihren Klauen. Die Jungen knabbern sich wie verrückt die Fingernägel ab, während deren fleißige Mütter in der Küche stehen und die Wäsche bügeln. Zugespitzt gesagt: 1968 fand in den Familien nicht statt. Vermutlich aus diesem Grund hat sich die starre Erotomanie so hartnäckig halten können.

Wir wollen den Franzosen ihr teures Talent gar nicht absprechen. Wer verführen will, muss jedoch Zeit und Verstand investieren, und ein bisschen Einfühlungsvermögen kann auch nicht schaden. DSK hingegen - Zeuginnenaussagen verdichten sich - greift gleich zu. Bei ihm scheint zwischen Phantasie und Tat keine mentale Strecke zu liegen. Warum erst nach schönen Worten suchen? Zeitverschwendung.

Darin weicht unser Protagonist vom de Sade'schen Prinzip langwieriger vorbereitender Wortwechsel ab. Ja, darin erweist er sich als unphilosophisch. Den Widerstand zu ignorieren, der ihm weiblicherseits geleistet wird, erfüllt dann aber wieder exakt das de Sade' sche Szenario.

Gleich drei Reporter der Zeitschrift "Paris Match" machen sich in der aktuellen Ausgabe daran, die Herkunft des schwarzen Zimmermädchens zu ermitteln, dessentwegen DSK vor Gericht steht. Sie sind weit gereist, um mit Familienmitgliedern zu sprechen. Das Ergebnis ist bemerkenswert. Nafissatou Diallo, die sich im Sofitel "Ophelia" nannte, stammt aus einem winzigen Bergdorf in Guinea, einer ehemaligen französischen Kolonie Westafrikas mit Französisch als Amtssprache. "Ophelia" und DSK könnten also, theoretisch, französisch miteinander gesprochen haben.

Allein diese postkoloniale Konstellation unterstreicht die Brisanz des Geschehens im Boudoir von New York. Die 32-jährige Afrikanerin gehört dem (inzwischen sesshaften) Nomadenstamm der "Peul" an. Sie hat keine reguläre, aber die Koranschule besucht. Mit siebzehn Jahren ist sie verheiratet worden, sie bekam ihre Tochter und wurde bald schon Witwe. Eine Cousine hat sie ermuntert, in die USA nachzufolgen, wo sie mit einer Greencard arbeitet. Die Mädchen des Stammes werden laut "Paris Match" im Alter von acht oder neun Jahren beschnitten, so auch "Ophelia"; eine Information, hinter der sich ein Politikum ganz anderer Art verbirgt.

Als wichtige Protagonistin im Hintergrund muss Anne Sinclair einbezogen werden, die erfolgreiche Fernsehjournalistin und Enkelin des vor Hitler geflohenen Kunsthändlers Paul Rosenberg, dessen Erbe sie zu einer überaus vermögenden Frau machte. Sie und DSK sind seit zwanzig Jahren verheiratet, gleich alt, derselben gesellschaftlichen Klasse angehörend, der jüdischen Großbourgeoisie. Ihr Vermögen fließt nun in die Verteidigung ihres Ehemannes.

Anne Sinclair, die einen amerikanischen und einen französischen Pass besitzt und die derzeit sowohl Bewunderung als auch Mitleid erntet, vertritt keineswegs den Typus der Libertine - wie etwa die erotische Bestsellerautorin Catherine Millet, die im "Spiegel"-Interview bewusst anzüglich bedauert, dem "gleichgesinnten" Strauss-Kahn nie begegnet zu sein.

Vielmehr repräsentiert Madame Sinclair jenen Typus der starken Frau - reich, elegant, kosmopolitisch, gebildet, willensstark -, der in Frankreich häufiger anzutreffen ist. Schon im höfischen Frankreich tummelte sich die weibliche Intelligenz. Jüdinnen waren allerdings vom Leben am Hof ausgeschlossen. Erst Napoleon verlieh ihnen die vollen Bürgerrechte.

Noch einmal zurück ins Boudoir von New York: Ein weltlicher Jude trifft eine fromme Muslimin, ein reicher Franzose eine arme Afrikanerin, ein Vertreter des Jetset eine Immigrantin, ein Weißer eine Schwarze, ein älterer Mann eine junge Frau - die Geschichte von Verfolgung, Migration, Unterdrückung und des Aufstiegs gibt sich ihr Stelldichein in diesem Luxuskämmerchen. Kein Wunder, dass die Stammtische vibrieren.

Vollkommen offen ist, ob Dominique Strauss-Kahn aus dieser Affäre als postkoloniale de Sade'sche Romanfigur entlassen - oder als schmählich gefallener Bürger und Sexualverbrecher in die Geschichte eingehen wird.

Wie hieß es doch in de Sades "Philosophie im Boudoir"? "Franzosen, strengt euch noch einmal an, wenn ihr Republikaner sein wollt." Man kann sich des Gefühls nicht erwehren: Der Satz gilt noch.

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SZ vom 17.06.2011/rus
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