Alben der Woche:Eine Pop-Anomalie namens Harry

Stormzy wütet gegen Boris Johnson und Fero47 ist der neue König der Heiserkeit. Und Harry Styles? Übertrifft die Erwartungen schon wieder.

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Blake Shelton - "Fully Loaded: God's Country" (Warner)

blake

Quelle: Warner

2019 wird in die Pop-Geschichte eingehen als das Jahr, in dem Country plötzlich wieder in aller Munde war. Das liegt an dem 20-jährigen Rapper Lil Nas X und seinem Hit "Old Town Road". Wer tiefer in die Materie einsteigen will, bekommt mit "Fully Loaded: God's Country" von Blake Shelton Gelegenheit. Auf der Best-of-Kompilation wimmelt es vor biblisch-dräuenden Endzeit-Beknurrungen. Dürren, Tornados, Staubluft, verrostete Trecker: Eigentlich ist alles schrecklich in diesem gottverlassenen Oklahoma, aber Shelton will trotzdem hier begraben sein. Speziell für das Album aufgenommen hat er das Duett "Nobody But You" mit seiner Ehefrau Gwen Stefani, der No Doubt-Sängerin. Eigentlich ein netter Song, aber dieses betuliche, mit Hall belegte Gitarren-Gefummel à la Coldplay am Anfang: bäh! Toll ist dafür der Song "She's Got A Way With Words". Shelton singt: "She put the ex in sex / She put the low in blow / She put a big F.U. in my future". Das könnten auch tolle Rap-Reime sein, und ja: Man könnte sich den Song auch als Country-Trap-Remix vorstellen. Warum schaut nicht Lil Nas X für ein paar Gast-Reime vorbei?

Jan Kedves

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Fero47 - "4" (Epic Records)

Fero47

Quelle: Epic Records

Bislang dachte man ja, dass Casper der heiserste deutsche Rapper sei. Konkurrenz bekommt er von Fero47, der bürgerlich Ferhat Tuncel heißt und aus Bad Pyrmont stammt. Der Rapper mit kurdischen Wurzeln verleiht auf seinem Debütalbum "47" (Sony Music) der Heiserkeit einen neuen, gleichzeitig aggressiven, verzweifelten und stolzen Gangster-Glamour. Oder ist das eine spezielle, brutal geraspelte Form von traditionellem kurdischem Kehlkopfgesang? So oder so: Das aus dem Deutschrap eigentlich zu Genüge bekannte Vokabular ("Kokain", "Hure", "Bra") klingt bei Fero47 wieder anders, also: interessant. Die arabesken Melodien sind hübsch, nur die Afro-Reggae-Beats wurden vielleicht etwas zu stark auf den aktuellen Chart-Gusto abgestimmt. Fero47 hebt sich dann aber auch dadurch hervor, dass er so auf Dreier-Rhythmen steht, oder: Dreier-Wiederholungen. Er rappt "tot, tot, tot", "Coupé, Coupé, Coupé", "désolé, désolé, désolé". Außerdem ist er, ironisch, offen für Rap-fremdes Instrumentarium. In der Bruderhymne "Immer zu zweit" rappt er: "Wenn ich will, pack ich in den Song 'ne Ukulele, doch was ist eine Ukulele gegen meine Kehle?"

Jan Kedves

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Harry Styles - "Fine Line" (Sony)

Harry Styles

Quelle: Sony

Einen wie Harry Styles dürfte es ja eigentlich gar nicht geben. Der britische Sänger ist eine dieser Pop-Anomalien, die an sich schon sehr selten auftreten. Und sich noch seltener halten. Styles kommt schließlich aus der Casting-Show X-Factor, die 2010 die Band One Direction ausspuckte - Boy-Band-Hyper-Pop, Texte über Liebesbeziehungen, die nicht mal Gott selbst trennen könnte. Dieser Kram. Und dann veröffentlicht er plötzlich ein Solodebüt, das nicht weniger war als eine latent irre Sensation: Altmännermusik eigentlich, aber so gnadenlos gut zusammenzitiert und so zwingend gespielt und gesungen, dass sie sofort zeitlos wurde. Jetzt kommt mit "Fine Line" (Sony) der Nachfolger. Das verflixte zweite Album, das zeigt, ob das erste ein Glückstreffer war. Und was soll man sagen: kein Glücktreffer. "Fine Line" ist kein so radikaler Bruch wie der Vorgänger, aber es ist ein sehr gelungenes Stück Hipster-Pop-Rock. Zumindest, wenn man über die vielleicht etwas zu generisch geratene erste Hälfte hinauskommt.

Jakob Biazza

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Stormzy - "Heavy Is the Head" (Warner)

Stormzy

Quelle: Warner

Den Tag nach der britischen Schicksalswahl als Veröffentlichungsdatum für das eigene Album zu wählen - beim Rapper Stormzy sicher kein Zufall. Wie nur wenige andere Musiker hatte er in den vergangenen Wochen gegen Boris Johnson mobilisiert, bevorzugt unter dem Slogan "Fck Boris". Auch auf "Heavy is the head" ist der Slogan vertreten, und zwar auf seinem Über-Hit "Vossy Bop". Dass sich neben solchen Zeilen in Stormzys Musik leider auch viel Sexismus findet ist einigermaßen verwunderlich. Denn eigentlich bedient er recht glaubwürdig eine bezüglich Rassismus, sozialer Ungerechtigkeit und sonstiger Diskriminierung bewanderte Grime-Jugend - Fans wie Sibylle Berg inklusive. Dazu hat er einen sehr eigenen, intelligenten Flow, und auch die Produktionen sind einfallsreicher als das sonst übliche Trap-808-Beat-Starterpack. Mit Gästen wie Ed Sheeran ("Own It") schielt das zwar ästhetisch ein wenig Richtung Mainstream, bleibt aber inhaltlich der politisierten Straße verpflichtet. Vielleicht lässt er ja beim nächsten Album einfach noch die Ich-spann-dir-deine-Freundin-aus-und-spritze-ihr-ins-Gesicht-Lines weg.

Quentin Lichtblau

© SZ.de/qli
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