Süddeutsche Zeitung

Stine Pilgaards Roman "Meter pro Sekunde":Im Land der kurzen Sätze

Eine Beziehungsratgeberin landet in Jütland und verzweifelt an der Einsilbigkeit der Leute: Mit dem Roman "Meter pro Sekunde" beginnt die Entdeckung der fabelhaften Autorin Stine Pilgaard in deutscher Sprache.

Von Sophie Wennerscheid

Den dänischen Begriff "hygge" kennen mittlerweile viele. Er bedeutet in etwa, es sich miteinander nett zu machen, dafür zu sorgen, dass man es gut und gemütlich hat. Gelingen kann das, aus dänischer Perspektive, allerdings nur, wenn man auch das Konzept zweier anderer Begriffe kennt und wertschätzt: "fællesskab" und "fællessang". "Fællesskab" bedeutet wörtlich Gemeinschaft, meint aber eher so viel wie Zusammengehörigkeitsgefühl. Das aber entsteht nicht primär auf der Grundlage gemeinsam geteilter Werte und Vorstellungen, sondern durch gemeinsames Tun, zusammen singen zum Beispiel.

Womit wir beim "fællessang", dem "Gemeinschaftsgesang" wären. Vielen Deutschen aus nachvollziehbaren historischen Gründen ein Graus, steht das gemeinsame Singen in Dänemark hoch im Kurs. Und das nicht nur bei älteren Menschen. Selbst pubertierende Teenager und spätpubertierende Studierende bekommen feuchte Augen, wenn sie ihr Volkshochschulgesangbuch aufschlagen und eins der rund 600 Lieder singen, die dort versammelt sind. Welche Blüten das treiben kann, erfährt man in dem wunderbaren Roman "Meter pro Sekunde" der dänischen Autorin Stine Pilgaard.

"Meter pro Sekunde" erschien 2020 als dritter Roman Pilgaards und liegt jetzt als erstes, aber sicher nicht letztes ihrer Werke auf Deutsch vor. Hinrich Schmidt-Henkel hat den Text so mitreißend übersetzt, wie er es verdient. Meter pro Sekunde, Wort pro Satz, das mag prosaisch klingen, ist aber, weil hier jedes Wort frische Luft mitbringt, ebenso klug wie amüsant.

In einem bunten Reigen aus wie gegen den Wind geworfenen kurzen Kapiteln erzählt der Roman in Ich-Form von einer Frau in den Dreißigern, die es nach Velling in Westjütland, dem "Land der kurzen Sätze" verschlagen hat. Ihr Liebster hat dort Arbeit als Lehrer an einer der für das dänische Selbstverständnis so wichtigen Heimvolkshochschulen bekommen.

Zurückgehend auf die humanistischen Vorstellungen des Pfarrers und Volkspädagogen Nikolai F. S. Grundtvig aus dem 19. Jahrhundert hat die dänische Volkshochschule wenig mit dem zu tun, was in Deutschland unter dem Begriff verstanden wird. In die deutsche Volkshochschule geht man als erwachsener Mensch hinein, besucht einen Kurs, wenn es gut läuft auch zwei, und geht wieder aus ihr heraus. In die dänische Volkshochschule aber geht man als junger Mensch hinein und bleibt. Gerne für einige Monate oder gleich ein ganzes Jahr.

Es handelt sich also um eine Art Internatsschule, in der es, so kann man in den konzisen Anmerkungen Schmidt-Henkels nachlesen, um eine "Pädagogik der Gemeinschaftlichkeit, des Unterrichtsgesprächs und des gemeinsamen Suchens" geht. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernt man dort. Das aber heißt für die Lehrenden: voller Einsatz und volle Identifikation. Und für die Partnerinnen und Partner der Lehrenden gilt das gleiche, fast jedenfalls.

Der Roman preist in einfacher Sprache die Sprache als Schatz

"Die Schule, das seid ihr alle, sagt die Schulleiterin und deutet auf mich. Ihre Stimme steigt und fällt, malt Bilder und macht Reklame." Doch so einfach ist es natürlich nicht. Zum einen ist das Leben als "Anhang" nicht wirklich befriedigend. Zum anderen machen die ganz in ihrer Rolle der engagierten Generation aufgehenden Mädchen dem Liebsten mehr als nur schöne Augen. Außerdem leidet die junge Frau, die vor einigen Monaten Mutter geworden ist, an nachhaltiger Übermüdung und macht sich Sorgen, ob das Kind wohl jemals etwas anderes sagen wird als immer und immer nur "Muh". Womit sich zudem die existenzielle Frage stellt, ob das angesichts der Einsilbigkeit der meisten Jütländer nicht sowieso die angemessene Art der Kommunikation ist.

"Du denkst in Prosa" erklärt der provinzerfahrene Partner, "die Leute hier fassen sich aber kurz." Haiku, siebzehn Silben, Natur plus Gegenwart. "Lieber Himmel, so ein Wind, ja, also wirklich. Und wieder Montag, ja, das bleibt nicht aus." Und keine Vertraulichkeiten, keine direkten Fragen, alles weglassen, was mit Körper, Lust, Sex, Schmerz, Tod zu tun hat. Gut gemeinte Ratschläge, die man aber auch in den immer wehenden Wind rufen könnte. Nicht dass die Erzählerin nicht versuchen würde, ihre "freischwebenden Assoziationen" an den Pflock der Alltagssprache anzubinden. Allein - dem auf der Zunge sitzendem Herzen sei Lob und Dank - es gelingt nicht.

Dass es nicht gelingt, macht sprachlich wie inhaltlich die Stärke des Romans aus. "Meter pro Sekunde" schafft es, in einfacher Sprache die Sprache als Schatz zu preisen. Und zwar im Schweigen wie im Sprechen, im Schreien wie im Singen, im grammatikfreien Festhalten am Dialekt wie in der elaborierten Ausführung. Wichtig ist im Grunde nur, dass der Schatz gehoben wird, auch wenn er im ersten Moment nicht wie ein Schatz aussieht, das Mitgeteilte also nicht immer das ist, was das Gegenüber hören will.

Wenn "hygge" eine Atmosphäre wäre, die verschiedene Sichtweisen zulässt, wäre viel gewonnen

In der professionalisierten, schriftlichen Form mag das angehen. Als Kummerkasten der Nation, sprich Beziehungsratgeberin einer Zeitung, darf die Erzählerin scharfzüngig sein und den verzweifelt Liebenden dieser Welt die kühle Hand der pragmatischen Vernunft auf die heiße Stirn pressen. Dass sie dabei gerne mit der Phrase einleitet, dass es "hier nicht um mich gehen soll", sie dann aber freimütig aus der eigenen Lebensgeschichte schöpft, macht das Ganze nur selbstironischer und witziger.

Neben diesen unsentimentalen Weisheiten sind es Umdichtungen der traditionellen Volkshochschullieder, in denen die Erzählerin ihre sprachliche Kraft, aber auch ihren Frust und ihre Lust fließen lassen kann. Diese Umdichtungen haben zwar in der deutschen Nachdichtung spürbar von ihrem Zauber eingebüßt, wurden dafür aber in Dänemark tatsächlich in die neueste Ausgabe des Gesangbuchs aufgenommen. Zu Recht. Sie sind wirklich schön in ihrer Leichtläufigkeit. "Hygge"-tauglich, aber immer mit diesem gewissen Etwas, das uns die Welt ein kleines bisschen anders, klarer, schärfer, schöner, bunter sehen lässt.

Wenn man "hygge" als das Schaffen einer Atmosphäre verstehen würde, in der die eigene Befindlichkeit klar ausgesprochen werden darf, man aber auch einfach mal die Klappe halten kann, letztlich also verschiedene Sichtweisen ebenso zulässt wie verschiedene Ausdrucksformen und Temperamente, dann wäre viel gewonnen. Ein gutes Beispiel hierfür sind bei Pilgaard die Auseinandersetzungen der Ich-Erzählerin mit Emma, einer Schülerin ihres Mannes, die es als das Recht der Jugend betrachtet, ungefragt in Beziehungen hineinrauschen zu dürfen. Doch auch die Ich-Erzählerin hat kein Problem damit, klarzumachen, wo sie steht.

Die Erzählerin nimmt sich ernst und kann eben deshalb über sich lachen

"Ich räuspere mich laut und versuche Emmas Blick einzufangen. Hier und da wird gelacht, aber da ich mich nicht wieder hinsetze, kehrt Stille ein. Das hier geht vielleicht ein bisschen weit, sage ich, den Zeigefinger auf Emma gerichtet, kannst du ihm nicht tote Tiere oder gebrauchte Monatsbinden nach Hause schicken wie eine normale Stalkerin. Sie blinzelt, in der Kantine herrscht donnernde Stille." Doch die Tür der Begegnung ist nicht unwiederbringlich zugeschlagen. Einige Kapitel später, im Auto: "Emma, sage ich, auch wenn wir denselben Mann lieben, brauchen wir deswegen keine Todfeindinnen zu sein. Sie holt ein Kaugummi aus der Tasche und hält ihn mir hin. Würde dir guttun, sagt sie."

Dass das Miteinander gelingt, hat auch damit zu tun, dass die Erzählerin sich selbst und alle anderen in ihrer Eigenart zwar ernst nimmt, sie aber trotzdem, oder gerade deswegen, über sie und sich lachen kann. So wird zwar auf der einen Seite deutlich gemacht, dass das ununterbrochene Reden über Feuchttücher und Babytrinkflaschen ein sicherer Beziehungskiller ist, andererseits aber darf die Freude über das Kind größer und blödsinniger sein als alles andere. "Unser Sohn hat begriffen, dass er hier der Star ist, denn als ich auf ihn deute, legt er erst mal eine Kunstpause ein. Mäh, sagt er dann feierlich. Mein Freund fasst nach meiner Hand. Mäh, sagen wir im Chor. Wir schauen unseren Sohn an, ganz verzaubert angesichts seiner Reise in das Land der Vokale."

Sprache ist etwas Wunderbares, geben wir ihr doch einfach Raum zur Entfaltung, lassen wir sie so sein, wie sie will und erwarten nicht, dass sie immer in gleicher Währung zurückgezahlt wird. Das ist die schlichte Botschaft dieses gar nicht schlichten Romans. "Wir sind aus Velling, wir sind aus Velling, olé, olé-olé-olé, brüllen wir über den Fjord, der mit einem gemächlichen Seufzen antwortet."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5534926
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/fxs
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.