SZ-Serie: Stimmen aus Syrien:"Die syrische Würde ist ein Stück altes Brot"

Alltag in Syrien

Alltag in Damaskus: Syrische Soldaten haben einen Checkpoint der Armee mit einem Bild des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad versehen.

(Foto: Hassan Ammar/dpa)

Ein Schriftsteller fragt sich, wie die Syrer leben und ein neues Denken erschaffen sollen - nach einem halben Jahrhundert Willkürherrschaft und Krieg.

Gastbeitrag von Adel Mahmoud

Über Syrien wird viel geschrieben: Kriegsverlauf, Geopolitik, Fluchtursachen. Aber wie sehen die Syrer selbst ihr Land? Wir haben Schriftsteller und Intellektuelle in Syrien gebeten, uns Texte und Gedanken zu schicken, so offen wie möglich, so vorsichtig wie nötig. Einer von ihnen ist der 1946 in Latakia geborene Journalist und Schriftsteller Adel Mahmoud. Er lebt seit 50 Jahren in Damaskus, hat 15 Bücher geschrieben, die meisten davon über den Krieg. Sein neues Werk, "Ein Stück Hölle in diesem Paradies", wird gerade ins Französische übersetzt. Die Szenen, die er für uns schreibt, sind Fragmente einer zerbrochenen Wirklichkeit.

Am Morgen nehme ich eine Bestandsaufnahme meiner Glieder vor. Und sehe, es ist alles an seinem Platz. Dennoch empfinde ich Trauer, aus Gründen, die ich nicht kenne. Dazu mag zählen: Welchen Nutzen haben all diese Gerätschaften, die bereitliegen für das Vergnügen, diese Pracht, die Begeisterung, diese übertriebene Wahrnehmung von Schönheit, wenn den Ort, zu dem man unterwegs ist, der Tod heimsucht?

"Der syrische Tod ist eine ganze Geografie."

Ich schaue mir dieses Wunschdenken genauer an, das in der Quintessenz vom Krieg bestimmt wird, denn der Wunsch gilt allein einem Ende des Krieges, dem Streben nach Frieden und Einhalt dieses furchtbaren Blutvergießens. Der Gedanke, der am Ende dazu führen kann, dass Häuser für die Armen erbaut werden, für die, die ins Exil gegangen sind, für die Opfer und Flüchtlinge und für all jene, die - zwischen Bedauern und einem Lächeln - den Bankrott ihres Landes in Zweifel ziehen, dieser Gedanke lautet: Wie sollen wir leben? Nicht von Mitgefühl und dem Öl der Hilfslieferungen leben, dem Tee der Inder und dem Brot der Iraner. Wohl aber: Wie sollen wir leben und ein neues syrisches Denken erschaffen über Ansehen und Würde der Persönlichkeit und des Individuums, nachdem es ein halbes Jahrhundert unter Willkürherrschaft begraben wurde?

"Die syrische Würde ist ein Stück altes Brot."

Ich überlege, welche Prüfungen die Zukunft unseren Kinder bereiten wird. Sehe, wie sie das Erwachsenwerden einstellen, weil sie Schüler bleiben wollen, im Stadium der Ausbildung verharren, um nicht während des Militärdienstes zu Märtyrern zu werden. Denn ihr Hass gegen das Vaterland ist ebenso groß wie ihre Liebe zu ihm. Während des Militärdienstes nimmt diese Liebe die Gestalt des lokalen Kommandeurs an, der jungen syrischen Männern befiehlt, ihre Alters- und Schicksalsgenossen auf der anderen Seite töten.

An diesem Morgen prüfe ich die Qualität der Wassermelone, die einen langen Weg zurückgelegt hat, aus der Al-Ghab-Ebene im Nordwesten Syriens bis in die Al-Fardous-Straße einer syrischen Stadt an der Schwelle zum Konfessionskrieg, auf dass sie mich vor meinen Freunden nicht im Stich lässt. Deren Einladung zu einem "nostalgischen" Fastenbrechen im Ramadan bedeutet, dass ich eine Wassermelone und einen traditionellen Ziegenkäse beschaffen muss, frisch zubereitet dem heißen Wasser entstiegen.

"Dieser Käse ist der ganze Wagemut der Bergziege."

Auch die edlen Bestandteile der Liebe unterziehe ich an diesem Morgen einer Inventur. Beende die emotionale Verbundenheit mit der Vergangenheit, vertreibe überhaupt das Verlangen nach Zeitbegriffen. Denke an etwas, das nicht Liebe ist, etwas, das nicht der Täuschung unterliegt. Und gestehe mir ein, dass die Liebe doch Trommeln braucht: Trommeln, die schlagen und die schönen religiösen Zeremonien erzeugen, vom Tanz der jungen Frauen bis hin zur Unterwerfung der Männer, vom Plätschern des Wassers der Quellen bis zum Donnern in den Bergen.

Ich betrachte aufmerksam das Lächeln der Nachbarn, die die Treppe herabkommen, sehe ihre Rücken, und gerade noch gekrümmt durch die Angst vor den Stiegen straffe ich meine Haltung und tue es ihnen gleich, aber immer drei Stufen auf einmal nehmend.

Heldenmut ist - zuweilen - bloß die Illusion davon.

Aus dem Arabischen von Markus Lemke

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A general view shows Old Quneitra in the early morning, near the Israel-Syria border line as it is seen from the Israeli-occupied Golan Heights, Israel

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:Der alltägliche Wahnsinn des Krieges

Wie es um ein Land steht, erkennt man vielleicht am besten, wenn man seine Irrenhäuser besucht. Die SZ hat syrische Autoren gebeten, aus ihrem vom Krieg zerrissenen Land zu erzählen.

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