Süddeutsche Zeitung

Stil:Mangelwirtschaft

Von Marie Schmidt

Der galoppierende Blödsinn des Konsumkapitalismus hatte immer etwas Beruhigendes. Frieden und Wohlstand zeigten sich darin, dass für eine Kundschaft, deren Bedürfnisse erfüllt und übererfüllt waren, vor neuen Waren immer erst neue Bedürfnisse produziert werden mussten. Wie eine große Mutter, die weiß, dass man Hunger kriegt, bevor man Hunger kriegt, wusste die "Trend"-Industrie, dass wir alle zum Beispiel weiße Turnschuhe wollen, und dann wollten wir sie auch. Vom Mangel, zumal an Textilwaren, haben uns bis neulich höchstens die ganz Alten erzählt.

Insofern ist es fast unheimlich, wie viele der angeblich ganz in die virtuelle Welt diffundierten Zeitgenossen nun eine Nähmaschine parat haben, um den plötzlich auftretenden Mangel an Mund-Nase-Masken eigenhändig zu beheben. Wobei das Do-it-yourself-Prinzip sich vor allem als kapitalismuskritisches über die Jahre gerettet hatte: sich nicht vorschreiben lassen, was man haben will, es selber machen. In der Pandemie hat die Handarbeit einen neuen, oder doch eher den ganz alten Gestus bekommen: "Davon geht die Welt nicht unter." T-Shirts und Vorhangstoffe werden zu Masken wie Ballonseide zu Sommerkleidern. In den Massenmarkt für Schutzmasken sind indes stilecht die Halbkriminellen eingestiegen. Rührend und wunderlich wird es sein, wenn in den nächsten Wochen die Warenwelt sich aus dem Staube erhebt und via Maske die feinen Unterschiede zwischen den Konsumenten wieder herausarbeitet. Der Schriftsteller Eckhart Nickel von der Stil-Fraktion des Pop trägt bereits ein Modell von einem Herrenschneider in Nymphenburg aus einem japanischen Papierfaser-Baumwoll-Gemisch. So geht es weiter.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2020
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