Steven Uhlys Roman "Die Summe des Ganzen":Und führe uns in der Versuchung

Steven Uhlys Roman "Die Summe des Ganzen": Zwei Vaterunser, und gut ist? Eine Betende in einer Kirche in Rom.

Zwei Vaterunser, und gut ist? Eine Betende in einer Kirche in Rom.

(Foto: Kai Koehler/Imago)

In seinem Roman "Die Summe des Ganzen" erzählt Steven Uhly die Geschichte eines pädophilen Priesters. Verlangt das den Lesern zu viel ab?

Von Christiane Lutz

In der Rangfolge problematischer Protagonisten steht ein pädophiler Priester wohl sehr weit oben auf der Liste. Niemand hat Lust, sich als Leser oder Zuschauer mit ihm zu identifizieren, ihn umweht auch nicht der faszinierende Hauch des Bösen wie so manchen Verbrecher, der gleichermaßen anzieht und ekelt. Sofort ist man mit den Gedanken bei schändlichsten Missbrauchsfällen der katholischen Kirche, bei desaströser Vertuschung, bei dem immensen Schmerz, den eine Institution ihren Schwächsten zugefügt hat. Nichts an der Figur ist faszinierend, dafür vieles abstoßend.

Ins Herz eines solchen pädophilen Priesters wagt sich Steven Uhly vor in seinem Roman "Die Summe des Ganzen", den der Secession-Verlag herausbringt. Er stellt sich die schier unlösbare Aufgabe, die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten so nachzuzeichnen, dass wir sie nachvollziehen können und trotzdem nicht aussteigen, angewidert von ihm oder von uns selbst, dass wir einen Moment der Zustimmung mit ihm erleben.

Der bequemere Weg wäre es natürlich, eine solche Geschichte von der Opferseite her zu erzählen, mit Opfern mitzufühlen, ist leicht, aber Uhly hat ganz offenbar keine Lust, es sich bequem zu machen. Nicht weil er mit dem Roman werben will für die differenzierende Ansicht "Auch pädophile Straftäter haben Gefühle" (obwohl das natürlich stimmt), sondern womöglich, weil er Freude an der Herausforderung hat.

Steven Uhlys Roman "Die Summe des Ganzen": Der 1964 geborene Münchner Autor Steven Uhly.

Der 1964 geborene Münchner Autor Steven Uhly.

(Foto: Catherina Hess/SZ)

Und um es kurz zu machen: Die meistert er. Auf 156 Seiten inszeniert Uhly aus dem Beichtstuhl und den finstersten Winkeln der menschlichen Psyche heraus ein Kammerspiel, das sich zum Thriller ausfaltet. Im Zentrum steht Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre alt. Der geht einem augenscheinlich gemütlichen Priesterleben am Stadtrand von Madrid nach, leitet einen Knabenchor und betreut täglich im Beichtstuhl seine Schäfchen, redet ihnen ins Gewissen und nuschelt Floskeln der Vergebung. Es sind schlichte Sünder: Der eine schlägt seine Frau, der andere geht zu Prostituierten. Guzmán hegt Sympathien für sie, ermuntert sie zur Umkehr, bis, und so beginnt die Geschichte, dieser aufgebrachte Mann im Beichtstuhl auftaucht. "Ich habe einen Nachhilfeschüler, der ...", stammelt er und stockt, doch man ahnt, wie der Satz weitergehen müsste.

Handelt es sich denn hier nicht um Liebe? Und ist die nicht gottgemacht?

Es entspinnt sich ein Zweigespräch in der intimen Anonymität des Beichtstuhls zwischen Padre Guzmán und "dem Sünder", Lucas Hernández, der von da an fast täglich kommt. Noch hat er nichts getan, was justiziabel wäre, aber schon seine Gedanken an den Nachhilfeschüler sind Sünde, das weiß er. Von Tag zu Tag wird er verzweifelter, für den Jungen fühlt er "Mitleid wie für jemanden, der in eine Naturkatastrophe geraten ist". Und "der Padre hört betroffen zu. Er will die Bilder nicht sehen, die der Sünder mit seinen Worten heraufbeschwört, sondern mit reinem Herzen zuhören".

Immer wieder stellt Uhly in diesen düsteren Gesprächen die Frage nach Sünde, ihrem Beginn und der Möglichkeit auf Vergebung. Schnell wird klar, der Padre und Hernández ringen mit denselben Dämonen. Der Padre hat sich hinter der Kirchendoktrin zum eigenen Schutz verschanzt, Hernández sucht nach Schlupflöchern: Handelt es sich denn hier nicht um Liebe? Und ist die nicht gottgemacht? "Und führe uns in der Versuchung", so heißt es in einer seit einigen Jahren diskutierten Neuübersetzung des Vaterunsers. Die Versuchung ist also real und akzeptiert, solange man nicht blind in sie hineinrauscht und sich von Gott leiten lässt.

Steven Uhlys Roman "Die Summe des Ganzen": Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession, Berlin 2022. 156 Seiten, 22 Euro.

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession, Berlin 2022. 156 Seiten, 22 Euro.

(Foto: Secession)

Dass Sünde als religiös-bedrohliches Prinzip eines ist, mit dem eine säkulare Gesellschaft immer weniger anfangen kann, macht die Geschichte nicht minder spannend, zudem liest sich "Die Summe des Ganzen" hervorragend als Gedankenspiel über Schuld, Verantwortung und menschliche Freiheit. Zumal vor dem Hintergrund einer sehr realen Kirchenkrise, in der jede Auseinandersetzung mit theologischer Sünde und auch mit ganz realer juristischer Schuld unendlich lang vermieden wurde. "Manchmal hat er das Gefühl, dass die Sünde selbst nicht das Entscheidende ist, sondern dieser innere Kampf, den sie verursacht", schreibt Uhly über Padre Guzmán, man könnte "Sünde" hier auch durch "Schuld" ersetzen.

Aber selbst der kühne Steven Uhly traut sich am Ende doch nicht ganz, komplett bei den Sündern und ihren düstersten Begehren zu bleiben, was fast schade ist, man hätte zu gern gewusst, wie er das durchzieht, zwei Pädophile im Beichtstuhl. Ein Twist in der Geschichte, beinahe Hollywood, eröffnet aber jäh eine neue erzählerische Ebene. Er erlöst die Leserin vom Unmut, viel Zeit mit problematischen Persönlichkeiten verbracht zu haben, ist aber auch ein Trick Uhlys, sich das Problem des pädophilen Protagonisten unkompliziert vom Hals zu schaffen. So viel sei gesagt: Gerechtigkeit wird hergestellt. Und auch dies: Ein Vaterunser wird hier nicht reichen.

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