Stephan Thome: "Pflaumenregen":Wieder keine Befreier

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Ein Land, dessen Geschichte sich in den Familienbeziehungen spiegelt: Mutter und Kind in Taiwan. (Foto: Wally Santana/AP)

Stephan Thome erklärt die Geschichte Taiwans als eine von Liebe, Verrat und Enttäuschung. Man könnte kaum leichter und klüger durch dieses Land geführt werden.

Von Insa Wilke

Über Taiwan scheint im Moment alles gesagtzu sein: Nichts Neues im Osten? Den Eindruck hat man wirklich nicht, liest man Stephan Thomes Roman "Pflaumenregen". Wie viele Menschen in Deutschland kennen Taiwans Geschichte im 20. Jahrhundert, von der Thome, der selbst seit zwölf Jahren in Taiwan lebt, in seinem Generationenroman erzählt?

Im Zentrum steht Umeko, die zur Zeit des Pazifischen Krieges aufwächst, der im Westen dem Zweiten Weltkrieg zugeschlagen wird. An ihrem Leben entlang erzählt Thome von der Kolonialisierung durch Japan, von der Befreiung durch die Festlandchinesen und vom Wandel zum autoritären Polizeistaat, der sich nach 1945 dann in Opposition zum kommunistischen China auf der Insel entwickelt. Er erzählt nicht chronologisch, sondern schneidet die Szenen aus Umekos Kindheit und ihrem Leben als junge Frau immer wieder gegen die heutige Zeit, in der Umekos Enkelin Julie sie als Zentralfigur ablöst.

Wobei Zentralfigur eigentlich die falsche Bezeichnung ist. Thome entfaltet sein Figurenensemble eher durch ein Kaleidoskop unterschiedlichster Liebeskonstellationen. Umekos Geschwisterliebe lenkt den Blick auf ihren großen Bruder Keiji, den Baseballstar des Ortes. Zart nur deutet Thome die emanzipierte Liebe von Umekos Vater für seine Tochter an und zeichnet diesen Vater auch durch seine Affäre mit Umekos japanischer Lehrerin als modernen, unabhängig denkenden Mann. Für die Intelligenz von Autor und Roman spricht, dass Thome diese Sicht später bricht, wenn der Vater in anderen familiären und auch beruflichen Beziehungen eher unterwürfig, gebrochen, opportunistisch wirkt. Auch Keijis Beziehung zu einer Aktivistin, die einem der indigenen Völker Taiwans angehört, lässt Thome kurz aufleuchten, um dann am Ende Julie einen kurzen, erschütternden Einblick in die Beziehung ihrer Großeltern zu geben.

Stephan Thome, 1972 in Hessen geboren, hat Jahre in Taiwan verbracht und ist immer wieder zu Rechercheaufenthalten dort. (Foto: Arno Burgi/dpa)

Man möchte fast an die taiwanischen Geister glauben, so leicht webt Stephan Thome diese Geschichten ineinander, ohne dass je der Eindruck entsteht: zu viel, zu gezwungen. Alle Bilder seines taiwanischen Kaleidoskops gehen für sich zu Herzen und fügen gleichzeitig wie in einem Bernstein eingeschlossen dem Mosaik des Romans ein Detail ostasiatischer Geschichte hinzu. In dieser Hinsicht öffnet einem besonders eine Szene am Hafen die Augen, in der Umeko und ihr Vater die Ankunft der Befreier von der Kolonialmacht erwarten: "Jahrelang hatten die Menschen vor nichts größere Angst gehabt als vor einer Invasion der Amerikaner und niemanden mehr verachtet als die rückständigen Chinesen - jetzt erwarteten sie ein amerikanisches Schiff mit chinesischen Truppen und brachen darüber in Jubel aus."

Als Umekos strenger Großvater in zeremoniellen Ornat mit anderen Würdenträgern des Landes die Helden der 70. Armee formvollendet vor Publikum empfangen will und das amerikanische Schiff nur einen Haufen abgerissener, zerlumpter "Kulis" ausspuckt, zeigt sich darin ein interkulturelles Drama, das noch in unserem Jahrhundert nachwirkt und die chinesischen Flugzeuge, die derzeit im Luftraum über Taipeh Grenzen austesten, in ein anderes Licht taucht.

Stephan Thome: Pflaumenregen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 526 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Thomes Mittel bestechen durch ihre Einfachheit, wenn er beispielsweise politische Geschichte einfach durch die Namenswechsel seiner Figuren illustriert: Umeko muss sich nach der Befreiung von der japanischen Vorherrschaft plötzlich Hsiao Mei rufen lassen, und ihr Sohn wird sich später Harry nennen. Subtiler wirkt, wie sich das Tempo verschiebt: Kontraintuitiv verlangsamt es sich nämlich im 21. Jahrhundert. Die Erklärung dafür ist plausibel: Umekos idyllische Kindheit ist unbelastet, weil die Welt hier im Gefühl eines sprühenden Kindes erzählt wird, das dem Vater vertraut, den Bruder bewundert und noch kein Bewusstsein hat für die Fragilität der Verhältnisse. Dann bricht mit britischen Kriegsgefangenen die Politik in Umekos Bewusstsein ein, und man könnte denken: Das ist die Zäsur.

Thome ist aber so klug und zieht eine zweite Ebene ein, eine ganz eigene Tragödie, die nur nebenbei erzählt wird: die eines Freundschaftsdiensts, einer Denunziation, mit der Umeko schuldlos schuldig wird. In diesem Detail verbirgt sich der Knacks, der das übersprudelnde Kind in eine schweigsame, bittere Frau verwandelt und das Tempo des Romans drosselt. Solche Mittel bewirken eine atmosphärische Dichte in diesem Buch, die weit mehr erzählt, als es der reine Ablauf der Ereignisse täte.

Stephan Thome: Gebrauchsanweisung für Taiwan. Piper Verlag, München 2021, 224 Seiten, 15 Euro. (Foto: N/A)

Weil Stephan Thomes Zuneigung zu Land und Leuten immer spürbar ist und er auf der Höhe des heutigen historischen Bewusstseins denkt, soziale Unterschiede in Dialoge und Charaktere übersetzen kann, gelingt es ihm so äußerst elegant, jeden didaktischen Zug zu vermeiden. Und das, obwohl man sagen muss: Sein Roman ist ein Crashkurs in ostasiatischen Beziehungen. Kulturell, politisch, emotional. Das "Neue" ist dabei einmal mehr im Vergangenen zu finden, und man fragt sich, wieso im Westen so wenig Interesse da ist für historische Zusammenhänge anderswo, ohne die man gegenwärtige Konflikte schlicht nicht verstehen kann. Woher die Arroganz zu glauben, man verstünde aufgrund einiger Schlagzeilen komplexe soziale, kulturelle und politische Entwicklungen? Andersrum gesagt: Was für ein Glück, mit Stephan Thome dieses Land zu entdecken.

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