Süddeutsche Zeitung

Sten Nadolny zum 80. Geburtstag:Du musst mit dem Sieg rechnen

Der lustvolle Erzähler, Retter der Langsamkeit und unnützen Umwege Sten Nadolny wird 80 Jahre alt.

Von Harald Eggebrecht

Dass es in einem Adagio, also einem langsamen Satz, harmonisch komplexer und weiter ausgreifend zugehen kann und sollte als in einem Presto, wo eher harmonische Einfachheit gefragt ist, darauf hat schon Joseph Haydn hingewiesen. Im Adagio gibt es mehr Zeit, damit sich die klangliche Vielfalt im musikalischen Prozess vielschichtiger entfalten und wahrgenommen werden kann als in raschen Sätzen, die ihre Attraktivität in anderen Mitteln finden.

Aber jenseits der Musik gilt Langsamkeit kaum als lobenswerte Kategorie. Schnecken und Schildkröten werden eher bemitleidet und dienen häufig für wenig schmeichelhafte Vergleiche. Doch spätestens seit 1983 gab - und gibt es immer noch - einen grundsätzlichen Wertewandel für diejenigen, die den Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny gelesen haben. Und selbst die, die nur den Titel als Schlagwort kennen, können wissen, dass aus dem im Alltag und in der gesellschaftlichen Wertschätzung bis dahin bestenfalls belächelten "langsam" die bewunderungswürdige Eigenschaft der sorgfältigen Wahrnehmung eines richtigen Helden geworden ist: die des Seefahrers und Polarforschers John Franklin, der daraus dann sein Handeln gewinnt.

Die Sympathie, die Nadolnys Figur damit beim Publikum erzeugt hat, dauert bis heute an und das weltweit. Franklins Langsamkeit war ein genialer Einfall Nadolnys, den er dem historischen John Franklin andichtete und mit dem er ihm eine höchst poetische Ausstrahlung verlieh. Hinzu kam dieser wunderbar leichte, stets von leiser Ironie klingende Erzählton. Übrigens begegnet John Franklin der Musik in Gestalt von Beethovens op. 111., gespielt von Ignaz Moscheles. John ist berührt: "Der langsame Satz war wie das Meer. Damit kenne ich mich aus." Und später sagt er seiner Frau: "Wenn die Passage hinter mir liegt, will ich ein wenig Musik lernen."

Dem Autor "muss ein wenig das Recht auf ein künstlerisches Leben zugestanden werden"

Der Versuchung, weitere "Märchen" aus vergangenen Zeiten zu erzählen und so den Bestsellererfolg womöglich zu wiederholen, hat Sten Nadolny bei seinen nachfolgenden Büchern souverän widerstanden. Wie er überhaupt nicht dazu neigt, Erwartungen zu erfüllen oder sich an den Vorgaben anderer zu orientieren: "Ein Autor kann sich nicht immer auf das Ziel beschränken, in der von anderen Leuten erhofften Weise zu schreiben, die erwarteten Geschichten zu schreiben. Er ist ja auch Navigator, kämpft, probiert, rechnet, irrt sich, wagt sich einmal zu weit, mal zu wenig weit hinaus, kreist mit mehreren Büchern das ein, was er meint, ohne es zu erreichen. Ihm muss ein wenig das Recht auf ein künstlerisches Leben zugestanden werden, also auf nötige und unnötige Umwege und auf Risiken, die nicht lohnen (was man bekanntlich erst hinterher weiß.)" So hat Nadolny es in seiner Dankesrede zur Verleihung des Ernst-Hoferichter-Preises 1995 formuliert, und dieser Ansatz dürfte bis heute für ihn gelten.

Inzwischen sind es acht Romane geworden mit unvergesslichen Gestalten wie dem linkshändigen Ringer Selim, der ein geborener Erzähler ist in "Selim oder die Gabe der Rede", oder dem "Gott der Frechheit", Hermes, den es in die Altmark verschlägt zu Helga Herdhitze. Oder der alte Richter a.D. Wilhelm Weitling in "Weitlings Sommerfrische" 2012, der sich noch einmal mit dem Segelboot auf den Chiemsee hinauswagt und als ein anderer zurückkehrt. Und natürlich Ole Reuter, den Nadolny in seinem Erstling 1981 mit der "Netzkarte" durch die alte Bundesrepublik fahren lässt bis ins magische Jerxheim und den er 1999 noch einmal auf die Eisenbahn setzt, nun im Disput mit sich selbst, älter, schwerer, griesgrämiger, ja, abgründiger und schwärzer: "Er oder Ich". Außerdem hat Nadolny 2003 im "Ullsteinroman" die Geschichte des Verlages erzählt.

Daneben hat Nadolny neben Vorträgen und Dankesreden Poetikvorlesungen 1990 in München und 2000 in Göttingen gehalten, übers "Erzählen und die guten Ideen" beziehungsweise die "guten Absichten" nachgedacht und dabei verschmitzt in seine Schriftstellerwerkstatt blicken lassen, natürlich ohne Gewähr. In einem Gespräch mit Wolfgang Bunzel hat Sten Nadolny sich als "leidenschaftlichen Oberlehrer" bezeichnet, allerdings als einen, der sich an Till Eulenspiegel orientiert, was schon in der Schulbeurteilung über den Knaben anklang: "ein lieber Junge, aber ein kleiner Schelm". Nadolny merkt an, dass er daran arbeite, aus dem "aber" ein "und" zu machen.

Nach der Wende kaufte er einen Trabi und suchte damit nach dem "Mittelpunkt der Welt"

Studienrat war er tatsächlich eine kurze Weile, nachdem der in Zehdenick an der Havel geborene, aber in Bayern aufgewachsene Sohn des Schriftstellerpaars Isabella und Burkhard Nadolny Geschichte studiert hatte und über "Abrüstungsdiplomatie 1932/33" promoviert wurde. Aber das Schulmeisterdasein hat er nicht lang ausgehalten, arbeitete stattdessen als Taxifahrer, Vollzugshelfer im Gefängnis und schließlich beim Film als Aufnahmeleiter. Er hat also viel getan, um beruflich nicht in die Spur der Eltern zu geraten. Aber als er 1980 mit einem Kapitel aus der "Langsamkeit" den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, gab es kein Ausweichen mehr. Übrigens hat er, eine provokante Eulenspiegelei, das Preisgeld mit den anderen Teilnehmern geteilt zum Missfallen des Jury-Vorsitzenden Marcel Reich-Ranicki.

Ohne diesen Sinn für Till Eulenspiegel hätte er sich wohl auch nicht auf Experimente wie den SZ-Fortsetzungsroman "Das große Spiel" eingelassen, den der unvergessene Feuilletonchef Johannes Willms initiierte. Immerhin krause Kolportage von drei sich abwechselnden Autoren - Nadolny, Eggebrecht, Michael Winter - unter dem Pseudonym Percy Warberger. Auch dass er mit dem Graffiti-Künstler Loomit eine Teekanne fliegen ließ in der Graphic Novel "Amnea", kommt aufs Schelmenkonto, oder dass er mit Jens Sparschuh seine Bundeswehr- mit dessen Volksarmeeerfahrungen austauschte oder sich nach der Wende einen Trabi kaufte, in den er seine mächtige Gestalt kaum hineinfalten konnte, und in Sachsen-Anhalt nach dem "Mittelpunkt der Welt" suchte im kleinen Dörfchen Poppau, der übrigens nichts anderes als ein großer Stein im Ententeich ist. Oder wie er ... genug für dieses Mal.

Jetzt wird Sten Nadolny, dieser wunderbar vielfältige Romancier und Erzählkünstler, dieser zum immerwährenden inspirierenden Gespräch aufgelegte Schelm der unergründlichen und untergründigen Art, dieser stets neugierige, lustvoll witzige und zugleich nachdenkliche Autor 80 Jahre alt. Wir gratulieren!

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