Süddeutsche Zeitung

Gedichte von Steinunn Sigurdardóttir:Wut und Wehmut

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"Alles wird der erde zum verhängnis / Das innere Feuer stürmt herauf": Steinunn Sigurdardóttirs so poetische wie dramatisch aktuelle Gedichtsammlung in "Nachtdämmern".

Von Elke Heidenreich

Dieses schmale Buch, dieses Prosagedicht, diese kurzen Verse - es ist die Autobiografie eines Mädchens, das in Island aufwächst und zugleich ein einziges wehes Lamento, ein Klagelied über verschwundene Schönheit, über das langsame Sterben der Natur, der Meere, der Tiere, der Gletscher, die der Heimat der Autorin den Namen gaben: Is-land, Eisland. Sie kennt die großen Gletscher von klein auf, man lebt mit ihnen, sie leuchten in der langen Dunkelheit dieser abgelegenen Insel im Norden, aber das Leuchten lässt nach. Das Eis schmilzt. Es rutscht. Geröll kommt zum Vorschein - schmelzendes Eis und Geröll haben gerade im Süden, in den Dolomiten, sieben Menschen getötet. Die Erde heizt sich auf: "Alles wird der erde zum verhängnis/ Das innere feuer stürmt herauf/ Die erde, selbst sie,/ unter dem gletscher, heizt/ hält es nicht mehr aus."

Wenn sie zaubern könnte, schreibt die Autorin, "würde ich die weiße farbe/ zurückzaubern in die welt". Niemand kann zaubern, wir haben es vermasselt, und Zauber kann nichts mehr retten. In diesem Sommer brennen die Wälder in Europas Süden schlimmer als je zuvor, die Flüsse, die uns im Herbst wieder überschwemmen werden, sind bei der Dürre ausgetrocknet, und die Fische verenden. Gerade eben in den Nachrichten: Millionen Schmetterlinge sterben, ihr Lebensraum ist weg oder vergiftet. Kleine Signale zum großen Finale? Und Island, hoch im Norden, zeigt das Verschwinden: "Der Gletscher vergeht zum nichts,/ zu keinem, zum niemand/ wird zum scheusal, kahl/ ein berg bei verschiedenen bergen/ kein Eisberg mehr, knarrend und klar./ So verreckt der weißeste Körper der welt,/ dann übernimmt das geröll."

"Und sternenlos werden die steinreichen/ vernichter in ihren unterirdischen bunkern sein./ Mit Champagner für hundert Jahre ..."

Wut und Wehmut halten sich in diesen balancierenden, leisen Texten die Waage, alles ist wie mit einem Atem geschrieben, Kummer und Zorn führen der Autorin die Hand, und mit poetischer Kraft erzählt sie vom "kaltschönen Meer", von der "merkwürdigkeit die man liebe nennt" und von den "verkohlten halden der enttäuschung". Sie stellt die richtige Frage: "Und unser planet der wunder wird zum/ felsenriff. Wohin soll sich die menschheit dann retten?/ Zu den sternen? Welchen sternen?"

Aber sie weiß, wer das Desaster überleben wird: die, die es angerichtet haben: "Und sternenlos werden die steinreichen/ vernichter in ihren unterirdischen bunkern sein./ Mit Champagner für hundert Jahre ..."

"Nachtdämmern" heißt dieses Buch der isländischen Autorin Steinunn Sigurdardóttir, die schon mit "Heidas Traum" ein Buch geschrieben hat, das anders ist als alles, was wir kennen. Sigurdardóttirs Texte sind wie ein Fenster, das man öffnet, und dann atmen wir nicht nur frische Luft, sondern haben einen neuen Blick auf die Welt, auf ihre Schönheit und Verletzlichkeit. Dies ist kein Manifest mit drängenden Worten, kein Aufruf zu handeln. Es ist die große Klage um schon Verlorenes, um vernichtete, unwiederholbare Schönheit, eine Klage alt wie die Antike, eine Klage, die der tiefste Urgrund aller Literatur ist, von den Klageliedern des Jeremias über die Nänien bei Leichenzügen im antiken Rom bis hin zu Orpheus' "Ach, ich habe sie verloren". Da ging es um die Liebe. Hier geht es um unser Leben. Sigurdardóttir beschreibt den Verlust am Beispiel ihrer Heimat, aber so oder so: Es wird uns alle treffen: "Was kommt dann? Wer werden wir? Wonach benennen wir uns?/ Wasfür-länder werden wir so genannten Is-länder wenn der gletscher geht? Is-länder nicht."

Selten war Poesie so dramatisch aktuell, bei aller Sanftheit. Und genau dafür ist sie da.

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