Im Frühjahr 2020 wirkte es für eine kleine Weile so, als würde die Mehrheit der Deutschen eine transnationale Liebesbeziehung führen. Überall tauchten sie auf, die Berichte von Paaren unterschiedlicher Nationalitäten, sei es im Elsass oder in der tschechisch-sächsischen Grenzregion, die sich wegen der zur Pandemiebekämpfung spontan beschlossenen Grenzschließungen allenfalls noch aus der Ferne über die Grenzanlage eine traurige Kusshand zuwerfen konnten. Was diese Bilder so drastisch erscheinen ließ, war die plötzliche kollektive Erkenntnis der mobilitätsgewohnten Europäer, dass sie in Ländern leben, die von Grenzen umgeben sind - und dass diese Grenzen auch geschlossen werden können.
Man muss nicht eigens an die sich im Frühjahr 2020 parallel abspielende Situation an der türkisch-griechischen Grenze erinnern, als unzählige Geflüchtete von türkischen Sicherheitskräften am Eintritt in die EU gehindert wurden, um zu zeigen, dass das neue Entsetzen der einen über die geschlossenen Grenzen der alte Alltag der anderen ist.
"Seit der Jahrtausendwende können wir ein geradezu inflationäres Aufleben der Mauer- bzw. fortifizierten Grenzen beobachten", schreibt Steffen Mau in seinem neuen Essay "Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert". Er räumt darin mit einem allzu einseitigen Blick auf die Globalisierung auf. Demzufolge würde die Menschheit immer freier, Grenzen würden durchlässiger und territorial abgegrenzte Räume verschachtelter.
Bis in die Neunziger waren fünf Prozent aller Grenzen fortifiziert, heute sind es 20 Prozent
In Abstufungen mag das für die Fluktuation von Waren und dem Kapitalstrom zutreffen, für die Personenmobilität aber, für die sich der Berliner Soziologieprofessor hier interessiert, gilt diese Tendenz nicht. Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Nicht zuletzt jüngere postkoloniale Forschungsansätze haben sich dieses Widerspruchs angenommen. In ihrer theoretischen Nachbarschaft ist Steffen Maus jüngstes Buch anzusiedeln, auch wenn er sich eher am Rande auf sie bezieht.
In der Gesamtheit aller Landesgrenzen, weltweit sind es laut Mau 630, gab es bis in die Neunziger hinein etwa fünf Prozent fortifizierte Grenzen, also den Übertritt verhindernde Mauern, Zäune, Wälle oder Stacheldrähte. Heute sind es etwa 20 Prozent. Interessant ist nun, dass etwa gleichzeitig zu dieser Steinwerdung der Territorien ein zu diesen Zahlen querliegender Globalisierungsoptimismus die Welt erblickte. Mit dem Slogan "Grenzen sind so 80er" bewarb sich die Piratenpartei bei der Europawahl 2014. Ob satirisch oder nicht, die Partei erfasste damit das "Entgrenzungsnarrativ" recht zeitgeistig.
Mau setzt dagegen, dass globalisierende Prozesse neben dem öffnenden auch immer einen grenzschließenden Effekt haben. Mitunter werden Grenzen nur unsichtbarer, sie exterritorialisieren sich zu "shifting borders". Die Rede von der Verteidigung Deutschlands "am Hindukusch" bekommt in dieser Perspektive eine weitere erhellende Bedeutung. Genauso wie die Szene an der türkisch-griechischen Grenze politisch näher an Deutschland heranrückt, insofern das die Verantwortung verschiebende Kooperationsabkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016 hier Gestalt bekommt. Mau spricht im Fall der Verlagerung von Grenzkontrollen auf die Territorien anderer Länder, sei es die Türkei, seien es aber auch Italien und Griechenland im Falle der Drittstaatenregelung, von Ländern, die zu "unfreiwilligen Türstehern des europäischen Hauses" oder, je nach Perspektive, der "Festung Europa" werden.
Doch beschränkt sich die Mauerschau in "Sortiermaschinen" nicht auf diese bekannten Fälle. Jede Grenze ist durchlässig, auch der 50-Fuß-Wall, über den Obamas Sicherheitsministerin Napolitano noch witzelte, es würde sich selbst für diesen eine ausreichend lange Leiter finden lassen. Steffen Mau beschreibt, wie die Filterfunktion von Grenzen, die "guten" von den "schlechten" Einwanderern zu trennen, zunehmend auch von smarten Technologien gesteuert wird. Mit Datenbanken verknüpfte digitalisierte Grenzen identifizieren über die Kontrolle biometrischer Informationen wie den Iris-Scan.
Von dort ist es nur eine Frage der Zeit, Pilotprojekte beweisen es, bis durch die Zusammenführung verschiedener Datenbanken auf die Vertrauensfähigkeit eines Einreisewilligen geschlossen wird. "Mit der Definition einheitlicher Datenformate und der erzwungenen Nutzung bestimmter Technologien zur Datenweitergabe werden extensive Zugriffsmöglichkeiten geschaffen, die von unterschiedlichen Staaten und deren Kontrollbehörden genutzt werden können", schreibt Mau. Je transparenter aber der Einzelne wird, umso sorgfältiger kann an der Grenze auch nach unerwünschten und erwünschten Reisenden differenziert werden. Hier verstärkt sich die dem Buch voranstehende Grundbeobachtung: "Die Grenze als Sortiermaschine ist ein Ungleichheitsgenerator, wie es vermutlich keinen zweiten gibt."
Maus Überlegungen stehen in einem weiten Referenzraum. Viele seiner theoretischen Vorgänger benennt er, sie reichen von Max Weber über Ulrich Beck bis hin zu dem britischen Soziologen Anthony Giddens und der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown, die in ihrem Buch "Mauern" das Verhältnis von hohen Grenzmauern und der immer brüchiger werdenden nationalstaatlichen Souveränität eindrücklich beschrieben hatte. Steffen Mau führt in seinem informativen Essay die fachwissenschaftliche Grenzdebatte elegant mit seinen eigenen Daten und Überlegungen zusammen und versieht sie mit einer überzeugenden Grundthese, durchaus mit dem größeren Publikum im Blick. Ein so instruktiver wie erfreulich nüchterner Beitrag zur politisch-soziologischen Zeitdiagnose.