Zuerst ist es ein Schock. Eher unwillig nimmt man die ersten Seiten in Angriff: der Balladenton, das Bänkelsängerhafte, der Flattersatz. So soll von den Lehman Brothers erzählt werden, und das auch noch 850 Seiten lang? Doch dann geschieht das Wundersame: Stefano Massini kapert einen mit seiner eigenwilligen Form, und schon bald verfällt man seinem Epos.
Der italienische Dramatiker und Schriftsteller rollt in seinem Buch "Die Lehman Brothers" die Geschichte der Bank auf. Den Grundstein legte der jüdische Viehhändlersohn Heyum Lehman aus Bayern, der 1844 in New York an Land ging, ein paar Jahre später einen Stoffladen in Alabama eröffnete, aus dem ein ganzes Handelsimperium mit Sitz in New York wurde, dann eine Investmentbank, die nach mehr als 150 Jahren untadeliger Bilanzen spektakulär den Bach runter ging. Die Pleite der Lehman Brothers, die über 28 000 Angestellte in etlichen Ländern beschäftigte, war 2008 der Höhepunkt der amerikanischen Immobilienkrise und löste die weltweite Finanzkrise aus.
Der Clou an Massinis Darbietung ist gerade das Gefälle zwischen dem zeitgenössischen Stoff und der antiken Form. Sein Buch entfaltet sich eben nicht wie ein Wirtschaftsthriller oder ein Sittengemälde im Stil von Tom Wolfes "Fegefeuer der Eitelkeiten", sondern eher wie die "Ilias" oder die "Odyssee", greift ebenso auf die Genesis wie auf klassische Literatur zurück und hat dennoch die Qualitäten einer Kriminalgeschichte, um deren Ende wir allerdings schon wissen. Die Bank wird zum Emblem für die dunklen Seiten unseres Zeitalters: grenzenlose Gier nach Profit, Maßlosigkeit, mangelnde Verantwortung.
Stefano Massini, 1975 in Florenz geboren, Altphilologe und seit Schulzeiten mit der Antike vertraut, ist der erfolgreichste italienische Dramatiker und längst auch ein internationaler Star. Die Bühnenfassung der "Lehman Brothers", die in fünfzehn Sprachen übersetzt wurde, in Brüssel, Köln und Barcelona auf enorme Resonanz stieß, am New Yorker Broadway lief und in London von Sam Mendes inszeniert wurde, brachte ihm gerade den Tony Award ein, den wichtigsten amerikanischen Theaterpreis.
Aber Stefano Massini ist selbst ein Mann der Bühne, der sich immer wieder als Erzähler ausprobiert. Jeden Donnerstag tritt er in der TV-Sendung "Piazza pulita" von Corrado Formigli vor die Kameras, einem der beliebtesten Formate des italienischen Fernsehens, und schildert in knapp fünf Minuten eine Episode, die ihn beschäftigt. Seit der Wahl von Giorgia Meloni geht es häufig um Mussolini. Kürzlich zeichnete er dessen Marsch auf Rom nach und schlug vor, wie man heute mit einem jungen Menschen darüber sprechen könnte.
Oder er schilderte, wie Hemingway den Duce in der Toronto Daily News im Oktober 1922 zuerst in Schutz nahm und ihn dann wenige Wochen später als Clown und Aufschneider bloßstellte, der die ganze Welt an der Nase herumführe. Im September ging es um das Ethos der Königin Elizabeth, die etwas von der Würde von Institutionen verstanden habe. Stefano Massini ist also jemand, der einerseits das erzählerische Handwerk in all seinen Abstufungen bestens kennt und einzusetzen vermag, andererseits aber ungebrochen an die Macht des Wortes glaubt. Für ihn gilt: Der Akt des Erzählens verleiht Geschehnissen Kohärenz und ermöglicht es, sie gedanklich zu durchdringen.
Außenseitern ermöglicht das Geld einen gesellschaftlichen Aufstieg, darin steckt seine Verführungskraft
Vermutlich hat sich Massini deshalb den Lehman-Stoff vorgeknöpft. Fluchtpunkt seines Unterfangens ist die Bloßlegung der Mechanismen des Kapitalismus. Ihm geht es um die Verführungskraft des Geldes, das Außenseitern den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht. Dabei enthält er sich eines moralischen Urteils, zeichnet aber die sozialen Konsequenzen einer entfesselten Finanzökonomie nach.
Obwohl Stefano Massini die Psychologie seines Personals nur andeutet und sein Ensemble eher wie Charaktermasken der Commedia dell'arte gestaltet, deren Eigenschaften sich in jeder Generation wiederholen, sind sie in sich schlüssig. Dass sie wie Hohlformen funktionieren, betont ihren exemplarischen Wert. Das Geheimnis seiner Hauptfigur Heyum, der sich im Handumdrehen den Gepflogenheiten der neuen Heimat anpasst und als Inhaber eines Stoffladens nur noch den Namen Henry verwendet, liegt in der Verbindung aus Instinkt für die richtigen Geschäfte, Fleiß, Anspruchslosigkeit und Loyalität seiner Familie gegenüber.
Zwar quält ihn das Sentenzenhafte der kurzen Briefe seines Vaters; etliche der Grundsätze wird er aber sein Leben lang beherzigen, und als seine Brüder eintreffen, wird aus dem Laden zuerst ein Zwischenhändler für Baumwolle, dann ein Handelshaus für alle möglichen Güter und schließlich eine Bank. Wie Massini es darstellt, verlieren nicht erst die Enkel und Urenkel jegliche Bodenhaftung und kümmern sich nicht mehr um den materiellen Gegenwert der Dinge, die sie verkaufen. Es gab von Anfang an solche Situationen.
Allen Brüdern ist ein gewisser Zynismus zu eigen, der von Generation zu Generation weitergetragen wird
Geschmeidig passen sie sich dem jeweiligen Umfeld an. Erst profitierten sie vom Sklavenhandel, dann etabliert der progressivere Bruder das Unternehmen in New York. Die Familie steigt groß ins Eisenbahngeschäft ein. Henrys Neffe Sigmund wird die Firma an die Börse bringen: "Nie und nimmer/ hätte Sigmund gedacht/", skandiert Massini in seinem Epos, "dass es auf der Welt/ einen Ort gibt/ wo die Mathematik/ zur Religion wird/ und ihre mit lauter Stimme/ gesungenen Riten/ nur Litaneien aus Zahlen sind".
Allen Brüdern ist ein gewisser Zynismus zu eigen, der von Generation zu Generation weitergetragen wird. Wer zu sensibel ist, wie Sigmund, oder künstlerische Ambitionen hegt, wie Bobbie, wird brutal umerzogen. In New York geht es für den Familienclan dann bald schon darum, in der Synagoge eine Reihe nach vorn zu rücken - in die Nähe der Goldman Sachs. Und auch das gelingt. Mittlerweile sind die Lehmans eine Dynastie, in die auch eingeheiratet wird. Bei allen Bedenken der Älteren wird am Ende Ruchlosigkeit belohnt.
Die ersten Investmentbanker ähneln Schakalen; jetzt herrscht nur noch der nackte Trieb. Massini stellt die gesamte Angelegenheit dar wie ein soziales Experiment, beschreibt das Irrationale des Marktes, führt die rauschhafte Dynamik auf die Teilnehmer zurück und verwebt Wirtschaftsgeschichte mit Sozialgeschichte. Dass die uferlose Litanei, bei der man unwillkürlich Kurt-Weill-Melodien im Kopf hat und immer wieder an Bertolt Brecht denkt, eine somnambule Wirkung gewinnt, liegt auch an der Übersetzerin Annette Kopetzky, die das Changieren zwischen lapidarer Beschreibung, Lakonie, rhythmisierter wörtlicher Rede, biblischem Pathos und düsterem Witz auch auf Deutsch nachbildet. Wer die Verwerfungen der Finanzkrise verstehen will, kommt mit "Die Lehman Brothers" ein Stück weiter.