Süddeutsche Zeitung

Stefan Weidners Buch "Ground Zero: 9/11 und die Geburt der Gegenwart":Schuld war nur der Kapitalismus

Vom 11. September bis zur Corona-Pandemie: Stefan Weidner versucht festzustellen, was die Gegenwart weltpolitisch bestimmt.

Von Ulrich van Loyen

Seit einiger Zeit gibt es - stark angeregt durch verkaufssinnige Agenturen - in der historischen und kulturwissenschaftlichen Publizistik die Tendenz zum "Debattenbuch". Debattenbücher entstehen in der Regel aus Aufsätzen, die die Autoren bereits veröffentlicht haben - wobei zumal in den bibliometrisch eingeschworenen Wissenschaften gilt: ein Aufsatz, ein Gedanke. Welche Fallstricke sich mit dem Debattenbuch verbinden, sah man etwa an Ivan Krastevs und Stephen Holmes' Buch "Das Licht, das erlosch". Der Gedanke bestand darin, dass der Osten in seinem Versuch, den Westen nachzuahmen, desillusioniert sei, während der Westen nicht einmal an sich glaube, sondern einzig durch die Illusion seines Erfolges am Leben gehalten werde. Die Idee trug auf den ersten dreißig Seiten. Für ein ganzes Buch aber mangelte es an eigener Forschung und außerjournalistischen Quellen.

Das neue Buch des Islamwissenschaftlers und Übersetzers Stefan Weidner entspringt einem ähnlich attraktiven, aber letztlich nur schlaglichtartig durchführbaren Gedanken: Unsere weltpolitische Gegenwart sei durchgehend bestimmt von den Anschlägen vom 11. September 2001, dem "Urknall unserer Welt". Darin seien wir nach wie vor gefangen, was unsere Handlungsfähigkeit angesichts neuer Herausforderungen (Migration, Klimakatastrophe) stark einschränke. Die Anschläge selbst entstammten der Logik des Kalten Krieges, sie seien das Ergebnis der US-amerikanischen Unterstützung repressiver Regime, die selbst gegen ihre progressiven Kräfte im Inneren jenen Islamismus mobilisierten, der schließlich ihr stärkster Gegner werden sollte. Das gelte von Algerien bis Saudi-Arabien. All diese Regime - wie die Protagonisten des Kalten Krieges - folgten der Devise: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Deshalb habe sich etwa das Königshaus Saudi-Arabiens mit einer besonders engstirnigen Auslegung des Koran, dem sunnitischen Wahhabismus, verbündet. Weidner erkennt darin eine Entsprechung zum Bibelfundamentalismus: Strömungen, die einerseits die Kultur der Moderne abwehren, andererseits ihren wirtschaftlichen Kräften freien Lauf ließen. Nicht zufällig seien 15 der 19 Attentäter des 11. Septembers saudische Staatsbürger gewesen.

Wenn auf der einen Seite der 11. September das Ergebnis fortgesetzter weltpolitischer Spaltung war, so bildete er gleichzeitig das Resultat einer immer engmaschigeren Vernetzung. Anstatt diesen Gedanken zuzuspitzen, paraphrasiert Weidner ihn, indem er eine Weltgeschichte anhand aufeinander antwortender Ereignisse in Orient und Okzident seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwirft. Die "Stunde Null" des Weltkriegsendes und der 11. September, die Niederlage der islamischen Welt gegen Israel 1967 und die Iranische Revolution 1979; außerdem der Prager Frühling von 1968 und der Arabische Frühling von 2011 - beide endeten unter Panzerketten und Alltagsfrust. Nicht zu vergessen der "Islamische Staat", der die Terrorherrschaft der Französischen Revolution wiederholt habe. Weidner begründet solche Parallelen mal mit philologischem Scharfsinn, mal mit historistischer Küchenpsychologie. Als ausgewiesenem Übersetzer arabischer Dichtung entgeht ihm nicht, dass beispielsweise die ägyptischen Muslimbrüder in ihrem Namen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausrufen. Zugleich sind es einmal die "progressiven Kräfte in der arabischen Welt", die den Globalisierungskritikern der nördlichen Hemisphäre ähneln, dann wieder die "Islamisten". Manchmal wünscht man, ein Lektor hätte diesen Text gründlicher durchgesehen.

Das Freund-Feind-Denken lenkt davon ab, dass das Herz der Finsternis nicht im anderen liegt

Wenn Weidner so viele Parallelisierungen wie möglich zwischen "uns" und "ihnen" aufzeigen will, dann entspringt das dem durchaus noblen Wunsch, die im Gefolge des 11. Septembers allgemeingültig gewordene Logik von Freund und Feind zu durchbrechen. Diese Logik hatte der abgründige Staatsrechtler und geniale Vereinfacher Carl Schmitt zur Grundlage des Politischen erhoben, und sie wurde ja auch die offizielle Blaupause des im Zeichen der kollabierenden Türme von Manhattan eröffneten "Clashs der Kulturen" (Samuel P. Huntington).

Doch auch die markigste Feinderklärung von Islamisten hier und Rechtspopulisten dort täuscht für Weidner nicht darüber hinweg, dass beide das Geschäft der Macht betreiben, die sie ursprünglich mästete: der "Pax Americana", sprich, des Neoliberalismus. Dieser habe die Länder des Nahen und Mittleren Ostens wirtschaftlich destabilisiert und ausbluten lassen und achte nun mit seiner antiliberalen und flüchtlingsfeindlichen Politik darauf, dass niemand ihm in die Suppe spuckt.

Ideologien sind für Weidner letztlich Schimären, einzig dem Gespenst des Neoliberalismus, das einmal angetreten war, Freiheit zu sichern, indem es sie ein wenig reduziert, wird Fleisch und Blut zuerkannt. In einem furiosen Epilog, von dem man annehmen darf, dass er die historischen Ausführungen motivierte und als Erstes auf dem Bildschirm seines Autors (und mancher Redaktion) flackerte, erscheint "Ground Zero" als Signum des westlichen Kapitalismus und seiner selbstzerstörerischen Tendenz. Die Rauchschwaden seiner eingestürzten Weltherrschaftsträume hätten lange genug verhindert, die Freund-Feind-Unterscheidung als Ablenkung von Wichtigerem zu sehen. Nämlich davon, dass das Herz der Finsternis nicht im anderen liegt, sondern in uns selbst.

Diese Erkenntnis wird dem Autor zufolge in der Corona-Pandemie kollektive Gewissheit. Die Schutzmacht des neoliberalen Systems, die USA, seien sichtbar für alle ausgefallen, die entsolidarisierte Welt des Westens habe zu keiner Antwort gefunden. "Wie in einem Vexierbild können wir seit der Corona-Pandemie jedoch auch ein anderes, ermutigenderes Bild sehen." Weidner meint damit nicht den unaufhaltsamen Aufstieg Chinas, sondern ein neues kosmopolitisches Bewusstsein. "Zum ersten Mal seit dem 11. September 2001 ist die Zukunft wieder offen."

Rilke schrieb: "Ein jeglicher Engel ist schrecklich". Heidegger sagte: "Nur ein Gott kann uns retten". Darunter macht es auch Stefan Weidner in seinem erklärt "politischen Essay" nicht. Am Schluss eines teils hochinformativen, teils maßlos überfrachteten und für diesen Autor sprachlich erstaunlich reizlosen Buches läuft der Leser dem schlimmsten Dualismus in die Arme: dem zwischen Menschheit und Schicksal. Man darf gespannt sein auf die weitere Debatte.

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