Süddeutsche Zeitung

Stargeburten im Internet:Potts Blitz

Der englische Casting-Show-Star Paul Potts verdankt seinen gigantischen Erfolg auch der Clip-Kultur des Internets: Selten waren sich Klassik und Pop so nah wie heute.

Matthias Lüdecke

Paul Potts hat es geschafft. Seine Aufnahme von "Nessun dorma" aus Puccinis Oper "Turandot" läuft im Dienste der Telekom auf Heavy Rotation in den Werbeblöcken, und am vergangenen Freitag sang er zur Eröffnung der Bundesligasaison in der Münchner Allianz-Arena - vor 69.000 Zuschauern und ein paar Millionen vor den Fernsehgeräten.

Der Auftritt ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, die in der britischen Casting-Fernsehshow "England's Got Talent" begann. Im Sommer des vorigen Jahres trat Paul Potts dort in einem unauffälligen Anzug unsicher vor die Jury, ein kleiner, pummeliger Mann mit schlechten Zähnen, der schüchtern verkündete, er wolle "Oper singen".

Man konnte die Schadenfreude in den Gesichtern der Juroren sehen - bis er schließlich ansetzte und "Nessun dorma" sang. Und das so gut und gefühlvoll, dass es Jury und Studiopublikum die Tränchen in die Augen trieb.

Perfekt, kitschig, rührselig

Die Inszenierung bei der Ausstrahlung, die auf eine ähnliche emotionale Reaktion des Zuschauers vor dem Bildschirm zielte, war perfekt, kitschig, rührselig - und sie erreichte ihr Ziel. Millionen Zuschauer in England waren ähnlich gerührt und wählten Paul Potts zum Sieger der Show.

Das Internet-Videoportal YouTube machte diesen Moment in der Folge für die ganze Welt abrufbar. Die Legende des vom Schicksal gebeutelten Handyverkäufers, der als Kind gehänselt wurde und als Erwachsener Krebs bekam, der hoch verschuldet war und doch eigentlich immer nur singen wollte, sie verbreitete sich überall auf der Welt - außer in Deutschland.

Hier übernahm jetzt die Telekom mit ihrem Werbespot diese Funktion und lieferte praktischerweise in den gegengeschnittenen, von Tränen benetzten Gesichtern der Menschen, die sich den Auftritt auf ihren Handys und Computern ansehen, die angemessene Reaktion - Rührung! - gleich mit.

Das große schale Versprechen der Castingshows

Nur am Rande erwähnt wurde, dass Paul Potts vor seinem Auftritt in der Castingshow durchaus privaten Unterricht genommen und bereits einen Talentwettbewerb gewonnen hatte. Zudem war er schon einmal in einer Amateur-Oper aufgetreten und hatte in Italien in einer Masterclass vor Luciano Pavarotti gesungen.

Inszeniert wurde er als Mann von der Straße, als Antithese zu so glamourösen wie professionell ausgebildeten Opernstars wie Anna Netrebko. Potts sollte der Beweis sein für das große schale Versprechen, von dem Castingshows leben: Dass nämlich Talent alle Grenzen überwindet und jeder ein Star werden, seinen Traum verwirklichen kann - wenn er nur fest genug daran glaubt.

So viel zu dem Schwindel, an den wir uns gewöhnt haben. Das eigentlich Bemerkenswerte an Paul Potts' Erfolg ist, dass eine Opernarie auf Platz drei der Charts landete.

Die Etablierung klassischer Musik im Mainstream-Pop scheint damit abgeschlossen zu sein, eine Entwicklung, die spätestens in den neunziger Jahren mit den Drei Tenören Luciano Pavarotti, José Carreras und Plácido Domingo begann.

Radikal demokratisierte Oper

Sie traten auch bei Fußballweltmeisterschaften auf und machten die Klassik so zu einem Ereignis außerhalb ihrer natürlichen Umgebung. Für seine Pavarotti and Friends-Wohltätigkeitskonzerte ging der italienische Startenor sogar noch weiter und trat mit Popstars wie Bono, Bryan Adams oder dem Queen-Gitarristen Brian May auf.

Aktionen wie diese ebneten den Weg dafür, dass ein Opernsänger heute überhaupt in einer Castingshow auftreten kann. Für den Chart-Erfolg von "Nessun dorma" allerdings sind YouTube und Downloadportale wie iTunes verantwortlich, die die Oper radikal demokratisieren, indem sie sie einfach gleichberechtigt neben das Pop-Angebot stellen - und indem sie die Titel einzeln verfügbar machen, das heißt, große Werke in kleine, zugänglichere Einheiten zerlegen.

Die Single- und Clip-Kultur des Internets fördert die Konzentration auf das einzelne Stück. "Nessun dorma" ist nicht mehr nur auf einer "Turandot"-Aufnahme oder einem Arien-Album zu erwerben, sondern auch als Einzelstück.

Bei Paul Potts wird diese Entwicklung manifest, denn erst am vergangenen Freitag erschien sein "Nessun dorma" als physischer Tonträger. Bisher beruhte der Erfolg ausschließlich auf Downloads. Die Menschen nutzen ausgiebig die Möglichkeit, das Lied aus der Telekom-Werbung allein kaufen zu können.

Diese Entwicklung in der Rezeption klassischer Musik führt zurück zu den Anfängen ihrer Reproduzierbarkeit, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schellackplatten eine Spieldauer von lediglich drei bis vier Minuten besaßen.

Technisch eher mittelmäßig

Mehr als eine Arie passte nicht auf eine solche Platte und ihre Einführung machte etwa den Tenor Enrico Caruso zu einem Star, weil sie eine völlig neue Verbreitung über die Live-Auftritte hinaus ermöglichte.

Von dem hässlichen Castingshow-Entlein ist übrigens nach etwas über einem Jahr und weltweit mehr als zwei Millionen verkauften CDs nicht mehr viel geblieben.

Seine ehedem schiefen und vergilbten Zähne hat sich der Sänger blendend weiß überkronen lassen, und in der Allianz-Arena stand er nicht mehr in einem Anzug für 35 Pfund, sondern im Smoking.

Zu hören war er kaum, aber das ist zweitrangig. Sein Gesang ist technisch eher mittelmäßig. Entscheidend ist, dass er überhaupt sang, dass er, der Handyverkäufer, es geschafft hat. Dafür wurde er vom Publikum nach seinem Auftritt gefeiert. Für seine außergewöhnliche Geschichte.

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SZ vom 18.08.2008/pak
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