Star-Pianist:Das "Enfant terrible" der Türkei

FAZIL SAY, Klavier

Fazil Say piesackt die, die nichts von seiner Musik verstehen.

(Foto: Marco Borggreve)

Fazıl Say liegt im Dauerclinch mit der türkischen Regierung. Doch selbst ein Präsident wie Erdoğan kann es sich nicht leisten, den Mann hinter Gittern verschwinden zu lassen.

Von Tim Neshitov

Fazil Say, der einzige türkische Pianist und Komponist von Weltrang, entschuldigt sich in diesen Tagen bei sehr vielen Menschen in seiner Heimat.

Bei dem Leiter des türkischen Staatschors. Bei den Sängern dieses Chors. Beim Publikum. Bei der eigenen Bühnen-Muse, der Solistin Serenad Bağcan. Sogar bei Carl Orff, dem Schöpfer der Carmina Burana, entschuldigt er sich. "Özür dilerim", betitelte Say seine jüngste Kolumne in der Zeitung Cumhuriyet. "Ich bitte um Verzeihung."

Auf Twitter schreibt er: "Nun hat die Zahl meiner Follower 400 000 erreicht. Dafür entschuldige ich mich bei der Öffentlichkeit. Mit herzlichen Grüßen (auch für die herzlichen Grüße entschuldige ich mich). Ich entschuldige mich bei Twitter."

Das ewige Wunderkind Fazil Say, verliebt in Mozart, mittlerweile 45 Jahre alt, hat schon immer mit seiner Heimat gehadert. Die Türkei ist ihm einfach zu religiös, zu nationalistisch und, unter dem kunstfernen Übervater Recep Tayyip Erdoğan, dem Präsidenten, viel zu autoritär.

Der Auslöser für Says jüngsten Sarkasmus-Ausbruch war die Entscheidung von Kulturbürokraten in Antalya, eines seiner Werke aus dem Programm des Staatschors zu streichen, das Oratorium für Nazim Hikmet, einen überragenden, ja legendären, aber eben keinen frommen Dichter. Das war im April, Say sprach von Zensur und machte dabei auch klar, was er von manchen Künstlerkollegen hält: "Es reicht nicht, dass ein Dirigent mit dem Stab wedelt, er sollte Solidarität zeigen." Der Chor forderte Say auf, sich zu entschuldigen. Nun hat sich Say also entschuldigt.

Nun kommt er nach Deutschland und spielt Mozart, Gershwin, Debussy

Dieses Pingpong mit der dauererregten türkischen Öffentlichkeit beherrscht er mittlerweile virtuos. Vor ein paar Jahren wurde Fazil Say zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er antiklerikales Halligalli getwittert hatte. Aber es kann sich sogar ein Recep Tayyip Erdogan nicht mehr leisten, Fazil Say hinter Gittern verschwinden zu lassen. Say piesackt deswegen immer wieder jene Türken, die seines Erachtens nichts von seiner Musik verstehen, dann fliegt er ins Ausland und spielt für Klassikfans, bei denen er sich nie für irgendetwas entschuldigen muss.

Diesen Samstag kommt Fazil Say nach Deutschland, er spielt in Germersheim, im Residenzschloss Ludwigsburg und Ende des Monats in der Laeiszhalle in Hamburg. Mozart natürlich, aber auch Leonard Bernstein, Claude Debussy, George Gershwin und Igor Strawinsky.

In Antalya hatten die Klassikfreunde weniger Glück. Im April wurde sein Hikmet-Oratorium durch die Carmina Burana ersetzt. Say fand das merkwürdig. Er musste seine frommen Zensoren daran erinnern, dass die Carmina Burana ein Werk sind, in dem unter anderem Wein und Geschlechtsverkehr vorkommen, was man ja leicht überhört, wenn man des Lateinischen nicht mächtig ist. Daraufhin setzte das türkische Kulturministerium eine große Carmina-Burana-Aufführung in Izmir ab. Carl Orff hat es nun schwer in der Türkei. Grund genug, sich posthum auch bei dem Münchner Meister zu entschuldigen.

Er glaubt an das Gute im Menschen

Es kann faszinierend sein, den türkischen Alltag von Fazil Say zu beobachten. Er ist dort zwar ein Enfant terrible, der sich mitten und gleichzeitig am Rande eines ihm zu lahmen Kulturbetriebs bewegt, in dem man den Funktionären den Ausdruck "Enfant terrible" erst einmal erklären muss. Aber gleichzeitig schöpft Fazil Say seine Kreativität, womöglich seine Lebenskraft aus diesem zerrissenen Land, aus türkischer Dichtung und osmanischer Musik und sogar Mystik.

Gerne spielt er mit dem Gedanken auszuwandern - viele Musikmetropolen würden sich vermutlich geehrt fühlen - aber man kann sich nur schwer einen auf Dauer glücklichen Fazil Say vorstellen in einem Land, in dem kultivierte Menschen noch nie etwas von Nazim Hikmet gelesen haben, oder von Metin Altinok, oder von Cemal Süreya.

Sie alle sind Dichter, die Fazil Says Denken geprägt haben, vielleicht sogar seine Interpretationen von Mozart und Strawinsky. Jedenfalls haben sie seine Spiritualität geprägt, denn er legt Wert darauf, dass er ein gläubiger Mensch ist, nur glaube er eben nicht an organisierte Religionen, sondern an "das Gute im Menschen".

Fazil Say, Pianist, Türkei, Islam, Blasphemie

Wunderkind und Zielscheibe religiöser Eiferer: Fazil Say .

(Foto: dpa)

Vor zwei Jahren vertonte er seine Lieblingsgedichte, das Album hieß "Ilk Sarkilar", die ersten Lieder. Eigentlich ist es eine Sammlung von Gedichten, die Say in den vergangenen zwanzig Jahren vertont hat und erst im reifen Alter aufzunehmen wagte. Er selbst spielt Klavier, in Begleitung von Cello, Flöte, Geige und den türkischen Instrumenten Saz und Kanun. Es singt seine Lieblingssängerin Serenad Bağcan, bei der sich Say nun entschuldigte, weil er sie mit dieser Aufnahme erst richtig berühmt gemacht habe.

Sein neues Album ehrt einen ermordeten Dichter

Das jüngste Album der beiden heißt "Yeni Sarkilar", neue Lieder. Es ist jammerschade, dass Fazil Say seine vertonten Gedichte hauptsächlich vor türkischem Publikum aufführt.

Ich falle wie ein Stein in euren See

Und ihr redet weiter

Ihr klammert euch an Worthülsen

Ihr flieht vor euch selbst

Mit eurer sausenden Trübsal

Voller Sorge entdeckt ihr die Nacht

Ich falle wie Tränen in eure Augen

Der Autor dieser Zeilen, Metin Altinok, starb am 2. Juli 1993 bei einem Brandanschlag im zentralanatolischen Sivas. Ein Mob, der glaubte, den sunnitischen Islam verteidigen zu müssen, setzte ein Hotel in Brand, in dem alevitische Schriftsteller tagten. Im Anschluss an das Freitagsgebet. 37 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib, darunter Metin Altinok, den Fazil Say kennengelernt hatte, als er noch ein Kind war: Altinok und Says Vater waren befreundet. Das Hauptziel des Anschlags, der Satiriker Aziz Nesin, überlebte. Nesin hatte angefangen, Salman Rushdies "Satanische Verse" in Auszügen auf Türkisch zu veröffentlichen.

Die Angst vor Fanatismus trägt er in sich

Fazil Say arbeitet sich bis heute am Trauma von Sivas ab. Er trägt die Angst in sich, den Ekel vor Fanatismus. Seine Kolumnen im kemalistischen Blatt Cumhuriyet lesen sich oft wie Selbsttherapie. Das klingt besserwisserisch bis militant.

In seiner Musik aber ist Fazil Say ein Suchender geblieben. Eine seiner stärksten Kompositionen ist das vertonte Gedicht "Mensch, Mensch" von Muhittin Abdal aus dem 16. Jahrhundert, ein Klassiker der sufistischen Literatur. Der Dichter sagt da, er habe verstanden, was es mit dem Menschen auf sich habe. Mit der Welt. Mit dem Glauben. "Was ist offenkundig, was ist geheim, was ist ein Zeichen, nun weiß ich das alles." Muhittin Abdal sagt natürlich nicht, was genau er verstanden hat, er ist ein Sufi, aber man glaubt ihm, dass er etwas wichtiges verstanden hat.

Fazil Say machte daraus das Chorstück "Insan, Insan", das er dem Gezi-Protest widmete. An Gezi nahmen alle teil, fromme wie Atheisten. Ein zutiefst versöhnliches, alles auf null setzendes Stück. Steht auf Youtube.

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