Stanley Kubrick - neues Material:Utopie in 88 Kisten

Wäre Stanley Kubricks nie gedrehter Monumentalfilm "Napoleon" ein Meisterwerk geworden? Ein Blick in seine einzigartige Materialsammlung gibt endlich Aufschluss.

Tobias Kniebe

Ein wuchtiger Foliant, fast fünfzehn Zentimeter dick, mehr als acht Kilo schwer, grünes Leder mit Goldprägung. So müssen Monumentalfilme wohl aussehen, wenn man sie nicht ins Kino bringt, sondern auf Papier druckt. Ehrfurchtsvoll löst man das Lederband, öffnet den Buchdeckel, späht mit klopfendem Herzen ins Innere. Nicht weniger als ein Mythos muss sich hier enthüllen: Stanley Kubricks nie gedrehter Film über Napoleon, der nach allen Legenden, die sich um das Projekt herumranken, wohl gewaltig geworden wäre - "the greatest movie never made".

Napoleon bei Friedland von Jean Louis Ernest Meissonier

Historische Zeichnung einer Schlacht: "Napoleon bei Friedland" von Jean Louis Ernest Meissonier.

(Foto: Foto: Getty)

Zwei Jahre Recherchen, Reisen, Probeaufnahmen, Drehbucharbeit. Dutzende Assistenten, mit Kameras in ganz Europa unterwegs, auf der Suche nach allen historischen Schauplätzen. Tausende von Karteikarten, mit sämtlichen bekannten Bildern, Daten, Fakten aus Napoleons Leben, chronologisch geordnet, Tag für Tag. Kostümstudien, Produktionsnotizen, Treatments. Alles in allem wahrscheinlich das größte private Napoleon-Archiv der Welt.

Das alles lagert, man weiß es seit langem, in 88 Kisten im Nebenhaus von Kubricks stattlichem Anwesen Childwickbury Manor in der englischen Grafschaft Hertfordshire. Aber niemand, bis auf den engsten Familienkreis und ein paar auserwählte, vom Glück begünstigte Filmhistoriker, durfte das Material sehen - bevor der Taschen-Verlag einen Deal mit den Erben machte.

Zugang zu geheimen Quellen

Das Buch "The Kubrick Archives" (2005) war das erste Projekt dieser Zusammenarbeit, das aber den Reichtum dieser Schätze nur andeuten konnte. Jetzt folgt "Stanley Kubrick's Napoleon", in Englisch, Französisch und Deutsch, herausgegeben von Alison Castle, 2874 Seiten stark, 500 Euro teuer, auf tausend Exemplare limitiert. Was heißt, dass es noch immer ein seltenes, ein teuer erkauftes Privileg ist, hier einem der Größten überhaupt beim allmählichen Verfertigen seiner Vision über die Schulter zu schauen. Man darf sich ein wenig selbst wie ein Entdecker fühlen, der sich Zugang zu geheimen Quellen erkämpft hat.

Das Öffnen des Folianten enthüllt eine Attrappe wie aus einem schlechten Spionagefilm. Die Seiten sind leer, aber inwendig ausgehöhlt, und drinnen liegen zehn kleinere Werke verschiedensten Formats. Da ist das Originaldrehbuch von 1969, wie echte Drehbücher von Schrauben zusammengehalten. Mittendrin fehlen sogar ein paar Seiten, wie es beim Film eben vorkommt. Briefe und Notizen sind eigenständig in Faksimile-Heftchen gesammelt, Location-Aufnahmen, Referenzmaterial und Kostüme zu kleinen Fotoalben gebunden, auch ein Band mit historischen und filmwissenschaftlichen Essays fehlt nicht.

Weil damit aber die Fülle des Materials noch immer nicht zu fassen war, setzt sich das Projekt im Internet fort: Eine Codekarte verschafft Zugang zu einem speziellen Online-Archiv, das nicht weniger als 17000 von Kubricks Leuten gesammelte zeitgenössische Gemälde und Stiche enthält, nach Stichworten durchsuchbar - exakt so wie der besessene Ordnungsfanatiker Kubrick, der dieses Material mit frühen IBM-Lochkarten systematisiert hatte, sich das wohl immer erträumt hat.

Billiguniformen aus Kunststoff

So stellt sich schnell das sagenhafte Gefühl ein, dass man wirklich einen alten Koffer öffnen darf und dabei ein wenig muffige Luft riecht; dass das Auge über eine verwirrende Fülle schweift, hier hängen bleibt, dort etwas zu entziffern sucht, nicht alles gleich einordnen kann; dass die tollste Entdeckung einmal Umblättern entfernt sein könnte.

Über allem aber schwebt natürlich die entscheidende Frage: Ist der Welt hier wirklich ein unsterbliches Meisterwerk verlorengegangen? Der Film wäre mit mehr als fünf Millionen Dollar Produktionskosten der teuerste seiner Zeit geworden; die rivalisierende "Waterloo"-Produktion von Dino De Laurentiis kam in die Quere; den Studios MGM und United Artists fehlte im Jahr von Woodstock am Ende der Mut zum gewaltigen Historienepos. Und doch...

Viel Tapferkeit, Grausamkeit und Sex

Der Antwort auf diese Frage nähert man sich nun in einem Prozess, der Kubricks Herangehensweise wahrscheinlich ähnlich ist. Man kann sich lustvoll, geradezu erotisch in den Details verlieren, jede Nebenfigur als Kupferstich aufrufen, die spätere Kaisergattin Joséphine als Nackttänzerin begutachten, die tollsten Zitate aus Napoleons Briefen durchforsten; anschließend plagt Kubrick dann eine Oxford-Koryphäe wie den Historiker Felix Markham mit komplexen Detailfragen: Wie genau sprach Napoleon seine Marschälle an? Wie wurde Silvester 1799 gefeiert? Wie mussten die Pferde für den Russlandfeldzug im Schnee beschlagen werden?

Zwischendurch entwirft er Billiguniformen aus hauchdünnem, reißfestem Kunststoff, damit die 40000 geplanten Statisten für die großen Schlachtenszenen in Rumänien nicht unbezahlbar werden. Die Prototypen fotografiert er schon mal im eigenen Garten. Da dürfen dann auch die halbwüchsigen Töchter mal Tafeln hochhalten, während der Hund durchs Bild läuft.

Außerdem schreibt er Memos, um dem Studio zu erklären, was der Stoff alles bietet: "Einen überragenden Helden. Starke Feinde. Bewaffnete Kämpfe. Eine tragische Liebesgeschichte. Treue und verräterische Freunde. Und viel Tapferkeit, Grausamkeit und Sex." An anderer Stelle notiert er: "Ich kann unmöglich sagen, was ich tun werde - nur dass ich einfach davon ausgehe, den besten je gedrehten Film zu machen."

Es hilft dann aber alles nichts - aus diesem endlosen Bonaparte-Rausch heraus muss er irgendwann auf den Punkt kommen, das Material verdichten, alles in sein Drehbuch pressen, das dann 186 Seiten hat und einen kohärenten Film ergeben soll - immer noch über drei Stunden lang, aber doch schon das strengste Destillat seiner Forschungen.

Eifersuchtsdramen mit Joséphine

Kubricks Treatment liest sich da noch ganz unentschieden. Es will alles. Er beginnt wirklich mit der Geburt, er endet mit Napoleons Tod auf St. Helena. Er verzeichnet alle Highlights und alle großen Errungenschaften dieses monumentalen Lebens, vom Sturm auf Toulon bis zum Code Civil.

Im Grunde schreibt er eine 100-teilige Vorabendserie, oft mit seinem sehr speziellen, bösen Humor gewürzt: "In dieser Nacht ging Napoleon mit romantischen Gedanken an Joséphine zu Bett. Joséphine ging mit Barras zu Bett." Man liest es und denkt sich bei vielen dieser Pointen: Wie zum Teufel will er das zeigen?

Die Stunde der Wahrheit kommt dann im Drehbuch selbst. Und sie ist sehr enthüllend. Denn Kubrick kann es nicht zeigen. Er hat noch immer kein Jota seines Anspruchs aufgegeben: Noch immer will er das ganze Leben, den ganzen Mann, die ganze Entourage und das ganze Zeitkolorit. Er will auch gleich zwei Erzähler. Der eine muss für die grobe historische Orientierung sorgen, der andere ist Napoleon selbst. Ist es wirklich Hybris? Ist es zu große Liebe zum Sujet? Kann er bei zu vielen Ideen nicht mehr loslassen?

Fatale erzählerische Hektik

Jedenfalls gerät er in fatale erzählerische Hektik. Man hört beim Lesen, auch heute noch, unablässig die Uhr ticken: Eine Szene Militärakademie, nächste Szene: Entjungferung. Erste Liebesnacht mit Joséphine - nächste Szene: Hochzeit. Und so fort. Ganze Schlachten und halbe Imperien werden mit einem Halbsatz gewonnen oder verloren, wohingegen dann Napoleons frühe Eifersuchtsdramen mit Joséphine, die etwas mehr Raum bekommen, plötzlich seltsam banal wirken.

Kaum einer der unzähligen Generäle und Minister darf mehr werden als ein gesichtsloser Stichwortgeber, fast niemand im Umkreis Napoleons wird die Zeit zugestanden, eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Es ist, als hätte man in all den Materialien, Skizzen und Vorstudien die Größe des Helden und seiner Zeit schon fast mit Händen greifen können - und dann entweicht alles, je konkreter es wird und je näher der geplante Drehbeginn rückt, wie eine flüchtige Essenz und lässt sich nicht mehr einfangen. Eine anschaulichere, aber auch eine härtere Lektion über den Prozess des Drehbuchschreibens hat man noch selten studiert.

Ob Kubrick die Sache noch in Griff bekommen hätte, in einem zweiten gewaltigen Anlauf? Unmöglich zu sagen. In dem Stadium, als das Projekt abgebrochen wurde - David Hemmings war als Napoleon an Bord, Audrey Hepburn hatte als Joséphine abgesagt - war er anscheinend noch immer wild entschlossen, erzählerisch nicht weniger als die Quadratur des Kreises zu erzwingen. Um den Film zu retten, hätte er seine große Utopie zerkleinern, in die Bahnen des Machbaren überführen müssen. Das wollte er offenbar nicht. Lieber hat er sie am Ende unbeschädigt behalten - in 88 Kisten auf seinem Speicher.

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