100 Jahre Stanisław Lem:Der skeptische Utopist

Stanislaw Lem, 1975

Ideengeschichte der Zukunft: Stanisław Lem 1975 in seiner Wohnung in Krakau.

(Foto: Forum/Reuters)

Vor 100 Jahren wurde Stanisław Lem geboren, der bedeutendste Science-Fiction-Autor des 20. Jahrhunderts, der Science-Fiction gar nicht mochte.

Von Nicolas Freund

Er hätte es wahrscheinlich nicht gerne gehört, aber Stanisław Lem verdankt seine anhaltende Bekanntheit zwei Dingen, die er beide nicht ausstehen konnte: der Science-Fiction und dem Film "Solaris" von Andrej Tarkowski. "Solaris" basiert auf Lems gleichnamigem, 1968 erschienenem Roman. Es geht darin um einen Planeten namens Solaris, der vollständig mit einem Ozean bedeckt ist und der auf eigenartige Weise die Welt der Wissenschaftler imitiert, die ihn erforschen möchten. Seit Jahrzehnten versucht die Menschheit herauszufinden, ob es sich bei Solaris um einen Planeten, ein Lebewesen oder doch etwas ganz anderes handelt - ohne Erfolg, obwohl bereits ganze Bibliotheken mit Forschungsliteratur gefüllt wurden. Dieses Gedankenexperiment über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis, ein Klassiker der Science-Fiction, machte nicht nur als Roman Karriere: Auf Tarkowskis Verfilmungen folgten mehrere Bearbeitungen für Theater und Oper sowie 2002 eine weitere Verfilmung von Steven Soderbergh mit George Clooney in der Hauptrolle.

Lem, der 2006 in Krakau gestorben ist, gilt allein wegen dieses einen Romans als einer der bedeutendsten polnischen Autoren des 20. Jahrhunderts, was er selbst allerdings wohl nur grummelnd infrage gestellt hätte. Obwohl er seit seiner Jugend (nicht nur, aber vor allem) Romane schrieb, in denen Raumschiffe, Roboter und Astronauten zentrale Rollen einnahmen, sah er sich in der Science-Fiction doch stets in schlechter Gesellschaft. Liest man heute zum Beispiel seine erstmals 1960 erschienenen Abenteuer des Piloten Pirx oder seinen allerersten Roman "Der Mensch vom Mars" aus dem Jahr 1946, den er mit 25 schrieb, kann man jedoch kaum glauben, dass er nicht auch ein immenses Vergnügen an diesen Themen gehabt hat.

Der Aufnahme in den Komosol entging er mit dem Argument, er müsse sich erst in die marxistisch-leninistische Theorie einlesen

Wichtig am Genre waren für ihn aber gar nicht das Fantastische und die Wissenschaft, sondern die Frage, die auch in "Solaris" zentral ist: Was macht die Menschheit aus? Er stellte nicht den Einzelnen ins Zentrum seiner Bücher, sondern kollektive Fragen. Dabei stand er dem Kommunismus, unter dem er als Intellektueller im Polen der Nachkriegszeit durch Zensur und andere Schikanen stark litt, nicht unbedingt nur freundlich gegenüber. Schon als junger Student entging er der fast obligatorischen Aufnahme in den Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation, mit dem Argument, er müsse sich dazu erst richtig in die marxistisch-leninistische Literatur und Theorie einlesen. Was natürlich seine Zeit dauere. Es wurde als Argument für einen Aufschub akzeptiert.

Die Menschheitsfragen wurden Lem aber schon früher gestellt. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte der am 13. September (der aus abergläubischen Gründen manchmal in den 12. September verwandelt wurde) 1921 Geborene als Automechaniker bei einer Firma in seiner Heimatstadt Lemberg, die allen möglichen Schrott wiederaufbereitete. Dort arbeiteten auch viele Juden, die so teilweise der Deportation entkamen.

Die Erfahrungen aus dem Krieg verarbeitete Lem zu einer Romantrilogie, "Die nichtverlorene Zeit", in Anlehnung an Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", die mit Science-Fiction gar nichts zu tun hatte: Der erste Band mit dem Titel "Das Hospital der Verklärung" handelt von einer psychiatrischen Klinik in Polen, in der das nationalsozialistische Euthanasie-Programm durchgesetzt werden soll, und schon hier stehen wissenschaftliche und moralische Fragen zur Zukunft der Menschheit im Mittelpunkt. Durch die rigorose sozialistische Neuordnung des polnischen Literaturbetriebs wurden die folgenden Bände leider derart auf Parteilinie gebracht, dass Lem ihren Nachdruck und ihre Übersetzung später untersagte. Die Themen, die der Krieg ihm mitgab, ließen ihn aber nie mehr ganz los.

Einen Auszug aus dem ersten Band dieser Trilogie hat der Wissenschaftslektor Jan-Erik Strasser auch in den neuen Sammelband "Best of Lem" (Berlin 2021, 528 Seiten, 12 Euro) aufgenommen, den der Suhrkamp-Verlag zum 100. Geburtstag veröffentlicht. Zudem gibt es eine neue Biografie Lems vom Slawistik-Professor Alfred Gall (272 Seiten, 25 Euro). Wer nur ein Buch Lems lesen möchte, der halte sich an "Solaris". Einen hervorragenden und sehr unterhaltsamen Überblick zu Werk und Leben Lems bekommt man, wenn man Gall und Strasser parallel liest. Strassers Sammlung hätte durchaus ein paar Kommentare vertragen können, genau die liefert Gall, auch wenn er gelegentlich etwas abschweift und ihm genau die Beispiele fehlen, die glücklicherweise Strasser versammelt hat.

Lems Werk liest sich nicht nur als die literarische Ideengeschichte der Zukunft, die es sein sollte, sondern auch wie eine Chronik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: als eine Welt der Wissenschaft und der Utopien, entstanden aus dem Totalitarismus der nationalsozialistischen und der sozialistischen Diktaturen. Lems Bücher erzählen nicht nur von einer anderen Welt, sie stellen auch gleich die noch heute wichtigsten Fragen: Was kann man wissen? Wie soll die Menschheit mit künstlicher Intelligenz umgehen? Und wie sollen wir überhaupt zusammenleben?

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