Standort Deutschland:Stört uns bitte einmal nicht bei der Arbeit!

Wir verdienen zu viel, schuften zu wenig und die Chinesen machen sowieso alles besser. Deutschland kann im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten und die Erde ist eine Scheibe. Die dringend notwendige Revision von ein paar Arbeitsmarkt-Gewissheiten von Rainer Stadler

Seit drei Wochen gilt Hartz IV, die Reform, die laut Wirtschaftsminister Wolfgang Clement die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis 2010 halbieren soll. Als die Bundesregierung vor zweieinhalb Jahren Hartz I, II und III ankündigte, hieß es, die Zahl der Arbeitslosen werde bis 2005 um die Hälfte sinken. Damals hatten 3,95 Millionen Deutsche keinen Job. Heute sind es 4,4 Millionen.

Standort Deutschland: Die tarifliche Arbeitszeit von 38,4 Stunden, oft Grundlage internationaler Vergleiche, existiert nur auf dem Papier. Jede dritte Überstunde wird nicht bezahlt. Ebenso nehmen die Deutschen weniger Urlaub als tariflich vereinbart und streiken seltener als ihre ausländischen Kollegen.

Die tarifliche Arbeitszeit von 38,4 Stunden, oft Grundlage internationaler Vergleiche, existiert nur auf dem Papier. Jede dritte Überstunde wird nicht bezahlt. Ebenso nehmen die Deutschen weniger Urlaub als tariflich vereinbart und streiken seltener als ihre ausländischen Kollegen.

Komischerweise regt sich darüber niemand groß auf, man hat sich an leere Versprechen gewöhnt. Schon Helmut Kohl gelobte 1996, mit seinem "Bündnis für Arbeit" bis 2000 die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Es regt sich niemand auf, weil die Deutschen akzeptiert haben, was ihnen wieder und wieder eingetrichtert wurde: Die fetten Jahre sind vorbei. Der Sozialstaat kann nicht mehr verteilen, als er einnimmt. Wir sind zu faul und Arbeit ist in Deutschland zu teuer.

Die Diagnose scheint durch nichts erschüttert werden zu können: nicht durch die Rekordgewinne deutscher Unternehmen wie Siemens, E.on oder BASF, nicht durch Deutschlands Wiederaufstieg zum Exportweltmeister. Dabei ist die Frage nicht so abwegig, wie diese Erfolge ins Bild passen vom "kranken Mann Europas", das zum Beispiel Hans-Werner Sinn von Deutschland zeichnet, der Chef des Münchner ifo-Instituts. Sind die anderen Länder noch kränker? Oder ist unser Zustand nicht so hoffnungslos, sondern nur unsere öffentliche Debatte hoffnungslos einseitig, weil sie von gewissen Kräften beherrscht wird? Kräfte, die vor allem uns, die vermeintlichen Patienten, einschüchtern wollen, damit wir klaglos eine bittere Pille nach der anderen schlucken. Es ist ja womöglich kein Zufall, dass Gesamtmetall, der größte Arbeitgeberverband des Landes, pro Jahr zehn Millionen Euro ausgibt, um mit seiner "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" für Einschnitte ins soziale Netz zu trommeln und für noch mehr Reformen.

Wir müssen nicht länger arbeiten - schon gar nicht ohne Lohnausgleich.

Stört uns bitte einmal nicht bei der Arbeit!

Deutschland ist ein Freizeitparadies, kritisiert Sinn, der ifo-Präsident und Chefdenker unter Deutschlands Reformern. Die Briten arbeiten 250 Stunden, die Amerikaner sogar 350 Stunden mehr im Jahr als wir und haben nur halb so viele Arbeitslose. Seit Anfang der neunziger Jahre fielen im produzierenden Gewerbe in Deutschland drei Millionen Jobs weg. Schneller, als neue ent- stehen konnten - "wegen der hohen Löhne", sagt Sinn. Er fordert die Rückkehr zur 42-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich. Dadurch sänken die Arbeitskosten in Deutschland um 15 Prozent. Die Unternehmen könnten billiger produzieren und verkaufen, das steigerte die Nachfrage, es entstünden neue Jobs. Klingt erst mal plausibel.

Andererseits stellte das eher arbeitnehmerfreundliche Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kürzlich klar: Vollzeitbeschäftigte in Deutschland arbeiteten in der Praxis bereits durchschnittlich 42,4 Stunden pro Woche. Die tarifliche Arbeitszeit von 38,4 Stunden, oft Grundlage internationaler Vergleiche, existiere nur auf dem Papier. Jede dritte Überstunde werde nicht bezahlt. Ebenso nähmen die Deutschen weniger Urlaub als tariflich vereinbart und streikten seltener als ihre ausländischen Kollegen. Der Krankenstand war Ende 2004 so niedrig wie noch nie seit Einführung der Lohnfortzahlung 1970. Deshalb sei es "unzulässig, den deutschen Arbeitnehmern die Spitzenposition bei der freien Zeit zuzuschreiben", folgern die DIW-Forscher in ihrer Studie.

Steffen Lehndorff, Ökonom am Institut für Arbeit und Technik des Landes Nordrhein-Westfalen, sagt voraus, die Einführung längerer Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich werde, anders als in Sinns Prognosen, Jobs vernichten. Wer soll denn zusätzliche Produkte kaufen, wenn keiner mehr Geld verdient?, fragt Lehndorff. Die Firmen würden also das Naheliegende tun: genauso viel herstellen wie zuvor - mit weniger Mitarbeitern.

Die Praxis zeigt außerdem, dass Firmen höhere Gewinne nicht unbedingt einsetzen, um die Preise zu senken oder zu investieren. Weltweit stiegen im letzten Jahr die Gewinne, "die Unternehmen verdienen derzeit unverschämt gut", sagte ein Aktienstratege der niederländischen Bank ABN AMRO der Wochenzeitung Die Zeit. Aber was passiert mit dem Geld? Viele Unternehmen kaufen eigene Aktien zurück. Die Deutsche Bank etwa hat 2002 dafür mehr als sechs Milliarden Euro ausgegeben. Für Unternehmen rechnet sich die Strategie: Der Aktienkurs steigt, weil sich weniger Wertpapiere auf dem freien Markt befinden. Und weniger Aktionäre bedeuten, dass die Banken weniger Dividenden ausschütten müssen. Nach dieser Devise handeln nicht nur die Deutsche Bank und andere deutsche Unternehmen, sondern Konzerne weltweit.

Die Arbeitskosten sind nicht zu hoch.

Warum kehren Firmen Deutschland den Rücken? Reformanhänger wie Jürgen Kluge, Chef der Beraterfirma McKinsey Deutschland, beantworten die Frage reflexartig: wegen der hohen Arbeitskosten. Forscher des Hamburger Instituts für Wirtschaftsforschung zweifeln jedoch an der Aussagekraft internationaler Vergleiche von Arbeitskosten. Schon der Begriff werde von Land zu Land verschieden definiert: Mal sind Faktoren wie Lohnnebenkosten oder Produktivität einberechnet, mal nicht. Dass daraus Verzerrungen entstehen, zeigt sich an Großbritannien: Mit 43 Stunden Wochenarbeitszeit gilt das Land bei den Arbeitskosten in Europa als vorbildlich. Bei der Produktivität liegen die Briten am unteren Ende der Skala.

Stört uns bitte einmal nicht bei der Arbeit!

Die Qualifikation der Arbeiter wird in den Vergleichen überhaupt nicht berücksichtigt. Mehrere Studien kamen zum Ergebnis, dass deutsche Arbeiter besser ausgebildet sind als ihre Kollegen in den USA oder Großbritannien und anspruchsvollere Tätigkeiten ausführen. Warum sollten sie nicht auch mehr verdienen? Schließlich: Wenn Arbeitskosten das Maß aller Dinge sind - warum gibt es dann in China 50 Millionen und in Polen drei Millionen Arbeitslose?

Natürlich drückten die Gewerkschaften in der Vergangenheit auch überzogene Lohnforderungen durch. Aber momentan ist die Übermacht der Arbeitnehmerlobby nicht das Problem. Die Lohnkosten der Deutschen sind in den letzten 15 Jahren, gemessen an der Inflation, nicht gewachsen. Deutschland zählt zu den wenigen Ländern, deren Lohnstückkosten in den letzten Jahren stagnierten und sogar zurückgingen. Die Produktivität stieg, ohne dass die Arbeitnehmer profitierten. Die Klagen der Arbeitgeberlobby haben also Wirkung gezeigt.

Das gilt auch für das Thema Unternehmenssteuern. Der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass errechnete, dass sich die Steuerlast auf Unternehmenseinkommen zwischen 1980 und 2003 halbiert hat. Auf dem Papier müssten die Firmen zwar 38 Prozent ihrer Gewinne an den Staat abführen. Dank unzähliger Schlupflöcher zahlen sie aber durchschnittlich nur 21 Prozent Steuern. EU-weit liegt die Steuerquote zwischen 28 und 32 Prozent. In der Schweiz etwa beträgt der Steuersatz 30 Prozent und es gelingt unseren Nachbarn, immerhin 28 Prozent einzutreiben. Derselbe effektive Steuersatz in Deutschland - und Finanzminister Hans Eichel wäre um 30 Milliarden Euro pro Jahr reicher, sagt Jarass. Zum Vergleich: Von Hartz IV erwarten Experten Einsparungen von einer Milliarde Euro jährlich.

Wir sind sehr wohl wettbewerbsfähig.

Man kennt diese Studien inzwischen, die Bertelsmann Stiftung verbreitete kürzlich wieder eine: "Deutschland unter 21 Nationen Schlusslicht bei Wachstum und Beschäftigung". Das Fazit solcher Studien lautet immer gleich: "Deutschland muss seine Reformbemühungen verstärken, um nicht langfristig den Anschluss zu verlieren."

Im Ausland sieht man unsere Lage nicht so düster: "Deutschland ist besser als sein Ruf", findet Fredmund Malik, Professor an der Universität Sankt Gallen. Von den knapp 4,5 Millionen Arbeitslosen sind 1,7 Millionen Ostdeutsche. Sie seien die Folge von 45 Jahren Sozialismus und "können weder der Politik noch der Wirtschaft angelastet werden". Trotz dieser Hypothek liege die Beschäftigungsquote - also der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, der Arbeit hat - bei gut 64 Prozent, höher als in Frankreich, Spanien oder Italien. Und das Wirtschaftswachstum? In Japan stagniert es seit einem Jahrzehnt und die USA befinden sich "in einer desolaten Lage, was selten realistisch gesehen wird, weil die US-Zahlen schöngerechnet sind", argumentiert Malik. Deutschland sei immer noch die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, eine der fortschrittlichsten dazu. Sie schultert enorme Lasten, finanziert neben der Wiedervereinigung auch maßgeblich die europäische Integration. Bis vor kurzem überwies Deutschland genauso viel Geld nach Brüssel wie alle anderen EU-Länder zusammen. "Von Deutschland zu reden, als wäre es das Armenhaus Europas, ist einfach nicht tatsachengerecht", folgert Malik.

Die Reformer geben sich alle Mühe, sogar die deutschen Exporterfolge herunterzuspielen, und erfanden den Begriff der "Basar-Ökonomie". Er besagt, dass die Deutschen nur deshalb so erfolgreich exportieren, weil sie mehr und mehr Teile von Zulieferfirmen im Ausland vorfertigen lassen. Diese Teile werden dann in Deutschland nur noch zusammengebaut. Das Problem: Geld wird an den Produkten "made in Germany" zunehmend im Ausland verdient und nicht mehr hierzulande. Auf diese verwegene These, gern wiederholt von Politikern wie Friedrich Merz, reagierten sogar die kühlen Rechner im Statistischen Bundesamt: Es sei schon richtig, dass der Anteil der vorgefertigten Teile für Exportprodukte zugenommen habe. Dieser Effekt sei jedoch vom starken Anstieg der ausgeführten Waren überkompensiert worden. Kurz: Trotz vorgefertigter Teile aus dem Ausland bleibt ein dickes Plus bei den Exporten.

Was würde passieren, wenn Deutschland seine Löhne senkte, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und Teile der Produktion aus den Billiglohnländern zurückzuholen, wie das die Modernisierer fordern? "Alle anderen Länder in Europa würden die Löhne auch senken", sagt der Wiener Ökonom Ewald Nowotny, "und wir hätten sehr schnell eine Abwärtsspirale, die fatal an die dreißiger Jahre erinnerte."

Stört uns bitte einmal nicht bei der Arbeit!

Natürlich haben Politiker wie Bayerns Wirtschaftsminister Otto Wiesheu Recht, wenn sie den Verlust von drei Millionen deutschen Industriearbeitsplätzen in den vergangenen zwölf Jahren beklagen. Allerdings gibt es in allen Volkswirtschaften den Trend zur Rationalisierung. Einer internationalen Studie zufolge gingen zwischen 1995 und 2002 weltweit 22 Millionen Industriejobs verloren. In Amerika verschwanden elf Prozent dieser Arbeitsplätze, in Japan 16 Prozent und selbst das Billiglohnland China büßte 15 Prozent ein. Trotzdem steigerte die Industrie im selben Zeitraum ihren Warenausstoß um 30 Prozent. Die Frage lautet also nicht nur: Wie lässt sich verhindern, dass diese Jobs wegbrechen?, sondern: Wie lässt sich der Verlust mit neuen Jobs ausgleichen?

Wir müssen eben nicht sparen.

"Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt." Wenn ein Politiker diesen Satz ausspricht, erntet er allerorten zustimmendes Kopfnicken. Doch was für einen privaten Haushalt oder einzelne Unternehmen stimmen mag, muss nicht unbedingt für die Volkswirtschaft gelten. "Deutschlands Unternehmen sind extrem wettbewerbsfähig, das beweisen gerade die hohen Exportzahlen, und trotzdem investieren sie wenig und schaffen kaum neue Jobs. Warum? Weil der heimische Markt weggebrochen ist. Also muss man ihn ankurbeln - ganz direkt." Wer das sagt? Oskar Lafontaine vielleicht oder die PDS? Das sagt Jim O'Neill, Chefvolkswirt der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs. Wie Recht er hat, zeigt die jüngste Konjunkturumfrage des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft: Viele Branchenverbände sind zwar optimistisch angesichts der wachsenden Weltwirtschaft, aber 19 von 43 befragten Branchen wollen Jobs abbauen. Branchen, "die überwiegend auf dem Inlandsmarkt tätig sind", wie der Einzelhandel, das Handwerk und die Bauwirtschaft.

"Ein Land kann auf Dauer nicht nur für den Export produzieren, das ist unklug, weil man die ausländische Nachfrage nach Gütern nicht kontrollieren kann", warnt O'Neill und rät der Bundesregierung, "Schecks zu verteilen, die sofort eingelöst werden können. In Amerika hat die Fiskalpolitik so das Wachstum unterstützt, als es nötig war." Wirtschaftsminister Clement setzt auf moralischen Druck. Er erwartet "von den Unternehmen, die hier groß geworden sind, dass sie wissen, was sie Land und Leuten schuldig sind". Würden die Unternehmen tatsächlich den Rat des Ministers befolgen und aus patriotischen Gefühlen heraus in einem Land investieren, in dem seit Jahren die Nachfrage stockt - sie wären bald pleite.

Es wurden ja Schecks verteilt in Deutschland - leider an die Falschen. Mehrmals senkte Sparminister Hans Eichel den Spitzensteuersatz. Auch von der jetzigen Steuerreform profitieren vor allem die Besserverdiener. Dabei wissen Volkswirtschaftler einfach, dass "in erster Linie Steuerentlastungen für die unteren Einkommen die Wirtschaft ankurbeln", sagt der Wiener Ökonom Ewald Nowotny. Bei den weniger Begüterten werden die Steuersenkungen derzeit leider aufgefressen, zum Beispiel durch Arzneimittelzuzahlungen, ab Juni kommt der Zahnersatz hinzu. Obendrein sollen die Leute für die Rente vorsorgen und jetzt - wegen Hartz IV - auch noch für den Fall, dass sie ihre Arbeit verlieren.

Stört uns bitte einmal nicht bei der Arbeit!

Doch woher soll Hans Eichel das Geld nehmen, wo ihm doch schon jetzt die EU im Nacken sitzt, weil Deutschland zu viele Schulden macht? Höhere Staatsausgaben bedeuten ja nicht zwangsläufig, dass mehr Schulden auflaufen. Frankreich oder die USA unter Präsident Bill Clinton haben vorgemacht, wie ein Staat die Wirtschaft stimulieren und anschließend trotzdem seine Schulden reduzieren kann, wenn er mehr Steuern einnimmt und weniger Sozialausgaben finanzieren muss. Besonders gewitzt gingen die Österreicher vor: Sie lagerten Investitionen für Straßenbau oder öffentliche Gebäude einfach aus - in private Gesellschaften. So drückte das Land sein Defizit Mitte der neunziger Jahre unter die Grenzen des Maastricht-Vertrags. Die Bauwirtschaft wurde der Konjunkturmotor, die Arbeitslosigkeit sank auf vier Prozent. Auch die Infrastrukturgesellschaften stehen heute auf solidem Fundament, sagt Franz Nauschnigg, damals wirtschaftspolitischer Berater der Regierung: "Die Lkw-Maut funktioniert bei uns halt schon etwas länger als in Deutschland."

Zu sparen und Schulden abzubauen mag ja prinzipiell vernünftig sein, aber nicht in Zeiten mit schwachem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit, sagt Ewald Nowotny. Die einzige Chance, die Deutschland für die Zukunft habe, sei ja gerade die gute Infrastruktur und die gute Ausbildung der Menschen. "Genau das wird in Deutschland zurzeit verspielt." Die Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg sehen vor allem Wachstumspotenzial bei "anspruchsvollen Dienstleistungen", wie sie Softwareentwickler, Rechts- oder Steuerberater, Marktforscher, Werbeleute und Ingenieure bieten. Berufe, die viel Know-how erfordern. Umso fataler, dass deutsche Hochschulen seit Jahren mit Mangeletats operieren. Und selbst im Bildungsmusterland Bayern Schulen die Eltern auffordern, für kranke Lehrer einzuspringen, weil das Kultusministerium Stellen gekürzt hat.

Der Ökonom Albrecht Müller war früher Mitarbeiter des Superministers Karl Schiller und Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Er hat ein sehr wütendes Buch geschrieben. Es heißt Die Reformlüge und rechnet mit den Modernisierern ab. Müller ist überzeugt, dass auch heute Wachstumsraten wie vor 30 Jahren erreichbar sind - mit altbewährten Mitteln. "Man müsste ein wirklich offensives Konjunkturprogramm fahren und eine PR-Kampagne, um endlich die Stimmung zu verbessern." Ende der sechziger Jahre, als noch keiner über Globalisierung sprach und die Große Koalition regierte, verbreiteten Karl Schiller und Franz Josef Strauß Parolen wie "Die Richtung stimmt" und "Die Pferde müssen wieder saufen". Tatsächlich brummte die Wirtschaft bald und erreichte nach einer Flaute 1967 in den folgenden Jahren Wachstumsraten von fünf Prozent und mehr.

Man kann Müllers Ansicht ja naiv finden. Aber spätestens seit Ludwig Erhard ist bekannt, dass Ökonomie viel mit Psychologie zu tun hat. Deshalb wäre es schon interessant, mal auszurechnen, wie viele Arbeitsplätze unsere Wirtschaftselite vernichtet hat - mit ihrem selbstzerstörerischen Gerede, dass Deutschland am Ende ist.

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