Gleich fängt man an zu picken. Gleich dreht man durch. Gleich passiert was. Das denkt man sich beispielsweise in der U-Bahn zu Stoßzeiten, die bisweilen wörtlich zu nehmen sind. Oder im Dauerstau der Städte, wo sich Auto an Auto reiht. Mitsamt den darin eingeschlossenen Insassen, die mit roten Köpfen die Windschutzscheiben anbrüllen. Oder man ist gefangen in einem überbuchten Flugzeug, wo man zur Einsicht gelangt, dass Gott, der Herr, im Irrtum ist, und dass es doch ganz gut wäre, bliebe der Mensch allein. Und sei es nur, um nicht die Schuppen auf dem Haupthaar des Vordermannes zählen zu müssen.
Im Aufzug oder in der U-Bahn fühlt man sich wie eine Legehenne und möchte um sich picken
Das ist normalerweise exakt der Augenblick, da der Vordermann, der möglicherweise keine Berührungsängste kennt oder einfach eine ganz andere Individualdistanz pflegt, die Zurücklehnfunktion seines Sessels entdeckt. Aber dennoch wird man, selbst wenn man spätestens beim Ausrollen des Flugzeugs auch noch mithören muss, dass das Meeting in Paderborn wegen des unfähigen Hinz und des inkompetenten Kunz zum Fiasko wurde, nicht picken. Man ist ja keine Legehenne - auch wenn sich das Leben der Gegenwart manchmal so anfühlt.
Das Phänomen räumlich-sozialer Dichte wird zunehmend erforscht. Dichte ist im Urbanismus neben dem Tempo der Stadt, ihrer genuinen Hektik, dem Lärm, der Kriminalität, der Anonymität oder der Qual-der-Wahl-Herausforderung multioptionaler Stadtgesellschaften ein äußerst effizienter Motor der Stresserzeugung. "Gedrängtheit und Platzmangel belasten uns", erklärt dazu der Psychiater und Psychotherapeut Mazda Adli im Gespräch. Der Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Charité in Berlin hat kürzlich das Buch "Stress and the City" veröffentlicht.
Darin erfährt man auch, dass Tiere, die man wie Legehennen auf zu kleinem Raum zusammenpfercht, unter der Enge leiden. "Sie fangen an, für verschiedenste Erkrankungen anfällig zu werden, sie entwickeln Verhaltensstörungen und eine höhere Sterblichkeit." Bei Legehennen komme es symptomatisch zum sogenannten Federpicken - also zu einer Art umorientierten Verhaltens, zur Aggression. Dass man im Flugzeug, in der U-Bahn, im Hochhausaufzug oder auf der samstäglichen Kaufhausrolltreppe dem Nachbarn nicht pickend ans Gefieder darf, löst allerdings das Problem sozialräumlicher Dichte unter Menschen nicht.
Genau dieses Problem kommt mitsamt seiner Bedeutung für Stress und Stressfolgeerkrankungen auf uns zu. Mit Riesenschritten. Das hat zunächst zu tun mit der sogenannten Verstädterung. Also mit dem weltweit anzutreffenden rasanten Wachstum hochdichter Städte und Siedlungsagglomerationen, in denen immer mehr Menschen mit tendenziell immer weniger (öffentlichem) Raum leben wollen - oder der postindustriell eher städtisch als ländlich organisierten Arbeitsplätze wegen dies auch müssen.
Schon 2050 werden nach Studien der Vereinten Nationen etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung in Ballungsgebieten leben. Und eben: sich dort auch "ballen", also in dichten Nachbarschaften organisieren und koexistieren. Was man aus der Biologie oder der Landwirtschaft kennt, das "Crowding-Stresssyndrom", wird somit immer mehr zu einem Problem in der Sphäre der Urbanität. Es wird eng.
Architektur entscheidet darüber, ob Menschen gesund leben können oder krank werden
Jenseits der global wirksamen Verstädterung geht diese Entwicklung in Deutschland auch mit der nach den Kriegen erneut anzutreffenden Wohnungsnot einher. Denn im Zuge des dramatischen Wohnraummangels richten sich die Begehrlichkeiten von Politik, Immobilienwirtschaft und auch der Wohnungssuchenden auf eine veränderte Nutzung des naturgemäß endlichen städtischen Grund und Bodens. Ein Indiz dafür sind die Turbulenzen rund um die GFZ. Das ist die Geschossflächenzahl, die im Städtebau das Verhältnis der gesamten Geschossfläche aller Vollgeschosse auf einem Grundstück zu der Fläche des Baugrundstücks insgesamt beschreibt. Eine GFZ von 1,0 bedeutet als Richtgröße der Nutzungsintensität beispielsweise: Ein 1000 Quadratmeter großes Grundstück darf mit Häusern bebaut werden, deren einzelne Stockwerksflächen maximal 1000 Quadratmeter betragen. Zum Vergleich: In Hongkong befindet sich die GFZ zumeist im zweistelligen Bereich - in deutschen Vorstädten liegt sie im Schnitt deutlich unter 1,0. Die GFZ, von der auch der Bodenrichtpreis abhängt, dürfte in Zukunft zu den strittigsten, bedeutsamsten Zahlen Deutschlands gehören. Sie beschreibt nicht allein Quantitäten, sondern auch räumliche Lebensqualitäten. In Abhängigkeit richtiger oder falscher Architektur beschreibt diese Zahl auch, ob Verdichtung glückt. Oder ob es Stress gibt.