Franz-Josef Höing bezeichnet das Gebilde als "Kompassnadel". Höing ist der neue Oberbaudirektor in Hamburg, und seine Kompassnadel ist 235 Meter hoch, heißt "Elbtower" und soll den Auftakt bilden für Hamburgs große Osterweiterung an den Elbbrücken. Dort begrüßen einen bisher Stelzendächer von Stückguthallen, bröckelnde Hafenbecken mit Birkenbewuchs, verlorene Backsteingebäude und eine Menge nostalgisch wirkender Gewerbepragmatismus - vom Reifenstapel bis zum pinkelnden Brummifahrer.
Aber dieser Verfallscharme einer aussterbenden Hafenkultur aus der Zeit, als echte Männer noch echte Säcke in ungeheizte Speicher schleppten, wird in den nächsten Jahren verschwinden. Nachdem Hamburg das Elbufer gegenüber der Hafencity schon 2015 bei seiner gescheiterten Olympia-Bewerbung komplett neu beplanen wollte, wünscht man sich im zweiten Anlauf jetzt einen "Stadteingang". Die Richtung, in die sich diese Neuerfindung der östlichen Elbufer bewegen wird, soll der weiße Wolkenkratzer von David Chipperfield Architekten, mit dessen Bau vermutlich 2020 begonnen wird, angeben.
Mit Schwung nach oben, würde man es bildlich deuten, wenn man das gläserne Betongebilde mit seinen konkaven Linien auf den Animationen betrachtet. Die Computeransichten sind Bedeutungsversprechen, die gar nicht verleugnen wollen, dass an diesem entscheidenden Punkt der Stadt zwischen ihren wichtigsten Verkehrsadern etwas bisher Unerhörtes entsteht. Mehr als doppelt so hoch wie die Elbphilharmonie wird die neue Landmarke das dominanteste Architekturzeichen sein, das Hamburg sich je geleistet hat.
Hervorgegangen aus einer Bauherrenkonkurrenz, die mit den üblichen Vielflieger-Architekten für Sonderformen bestückt war, soll der bei Fertigstellung dritthöchste Büroturm Deutschlands das Gravitationszentrum einer neuen dreiflügeligen Stadterweiterung werden. Als östlicher Abschluss der Hafencity, des immer noch größten Stadtentwicklungsprojekts in Europa, sowie als Auftakt zu zwei weiteren Neubaugebieten links und rechts der Elbe, gilt die große Begrüßungsvase als demonstratives Symbol der Dynamik dieser wachsenden Stadt.
Warum stellen die Hamburger eigentlich so gerne Schirmlampen in ihre Fenster?
Den distinguierten Hamburger, der so gerne Schirmlampen in die Fenster seiner Altbauwohnung stellt, mag es vor diesem Megazeichen und seinen Implikationen schaudern. Und auch die Kenntnis gängiger deutscher Stadtentwicklungsprojekte erzeugt wenig Hoffnung auf lebendige Urbanität auf den Abbruchflächen von Hafenwirtschaft und Güterverkehr, die nun am sogenannten Billebogen und auf dem Kleinen Grasbrook neu beplant werden. Das Billebogen-Gebiet in Rothenburgsort soll ein völlig neu gedachtes Gewerbegebiet werden, das die Industriearbeit in mehrstöckigen Komplexen zurück in die Stadt holt. Und das Areal südlich der Elbe mit Blick auf die Stadt ist gedacht als Mischgebiet aus Wohnen und Arbeiten.
Doch Höing, der vor seinem Amtsantritt im letzten November für die Stadtentwicklung in Köln und Bremen verantwortlich war, erklärt gegen alle Besorgnis klipp und klar: "Der Kleine Grasbrook muss ein Stück Stadt werden. Eine Siedlung kann ich mir dort nicht vorstellen." Obwohl Höing - ein salopp formulierender freundlicher Mann mit eher ruhiger und uneitler Ausstrahlung - zunächst ergebnisoffene Themenkonferenzen zu den riesigen Vorhaben plant, die durchaus kritisch diskutieren sollen, wie man Stadt an diesem Hafenort "urban und lebendig" hinbekommt, formuliert er doch schon einige erfreuliche Vorlieben.
"Ich habe große Sympathien für eine räumliche Kleinteiligkeit mit möglichst vielen unterschiedlichen Bauherren und Programmen, denn damit kann man stabile Städte bauen", sagt er etwa. Oder: "Ich wünsche mir viele lückenlos schöne Häuser, die eine klare Kontur nach oben haben." Und schließlich: "Wir brauchen ein Wettrennen auf die Grundstücke, bei denen nicht der Preis die entscheidende Rolle spielt, sondern das jeweilige Konzept."
Jeder dieser Sätze ist eine kleine Hoffnungsbombe gegen die Befürchtungen, die ein riesiges Investorenprojekt wie der "Elbtower" an dieser Stelle erzeugt. Denn Stadtneubau aus der Sicht von Immobilienentwicklern, wie es die Lebenswelt der meisten deutschen Kommunen dominiert, hat völlig andere Prämissen. Möglichst große, leicht zu vermarktende Monostrukturen ohne Experimente, die nur für sich allein und für die Rendite geplant sind, erzeugen in der Addition jene ausgestorbenen Schlafstädte für Mensch-Insekten, wie sie etwa rund um München so emsig gebaut werden: dekorierte Plattenbausiedlungen mit Shoppingmalls ohne jeden Flair, wo sich das Straßenleben auf Einparken und Gassigehen beschränkt.
Lebendige Urbanität, wie Bürger sie nur noch aus Teilen ihrer Innenstädte kennen, funktioniert aber nach ganz anderen Gesetzen. Und die will sich Franz-Josef Höing zu Herzen nehmen für die Großprojekte, mit denen in seiner Amtszeit der Osten Hamburgs umgekrempelt wird. "Die Erdgeschosszonen sind die entscheidende Frage", erklärt Höing: "Stadt gelingt nur, wenn das einzelne Haus der Straße etwas gibt. Falls es uns also nicht gelingt, die Erdgeschosszonen so auszugestalten, dass dort die Option lebendiger Nutzung besteht, können wir die Tür dort gleich zusperren."
Auch in der Hafencity, dem Vorläuferprojekt dieser städtischen Nachverdichtung, wurden alte Ideen der europäischen Stadt wie hohe Dichte, Schaufensterräume auf Straßenniveau, Nachbarschaften aus Wohnen und Arbeiten in einem Haus oder die soziale Vielfalt konzeptionell vorbestimmt - und teilweise "mit einiger Härte", wie Höing stolz bemerkt, auch gegen die Investoren durchgesetzt. Denn der Appetit des großen Geldes, Teil dieses erfolgreichen Megaprojektes zu sein, machte es den Planern der Hafencity möglich, die Investoren in Konzeptwettbewerben dazu zu zwingen, der Stadt etwas zu geben, das allen dient.
Die nächsten Jahre, wenn das lang gezogene Neubaugebiet der Hafencity in schnellem Takt die Elbbrücken erreicht, wird sich zeigen, ob auch die überwiegend als reine Wohngebiete geplanten Teile des Projektes "urban und lebendig" werden, so wie es die unzähligen Imagebroschüren der Planungsgesellschaft ständig versprechen. Vom Zusammenschluss der drei neuen Stadtentwicklungsquartiere am "Elbtower" wird es jedenfalls abhängen, ob diese Viertel wirklich das erzeugen können, was die letzten großen Expansionen der Innenstädte in der Gründerzeit geleistet haben: Quartiere, die architektonisch und von ihrer Konzeption her so attraktiv gestaltet waren, dass bis heute im Städtebau nichts erfunden wurde, was eine ähnliche Anziehungskraft entwickelt hat.
Der Sprung der Stadt über den Fluss kann glücken, aber auch daneben gehen
Der Sprung der Stadt über den Fluss auf ehemaliges Hafengebiet, der unter anderem mit einer neuen Elbbrücke zum Zentrum der Hafencity gelingen soll, besitzt diese Chance zweifellos. Zumal, wenn sich Überlegungen durchsetzen, dort auch kulturelle Nutzungen anzubinden, wie das Deutsche Hafenmuseum, für das gerade ein Standort gesucht wird. Hier an der Kante zum weiter praktizierten Containerumschlag wäre das museale Großprojekt sicherlich ideal platziert. Auch die Einbindung der Altbausubstanzen, vor allem der denkmalgeschützten Speicher für Atelier- und Start-up-Nutzungen, könnten lebendige Vielfalt erzeugen - die vielleicht sogar vergessen macht, dass es in der Flussschneise und mit den Fallwinden des Elbtowers vermutlich ständig ziehen wird wie Hechtsuppe.
Die Grundvoraussetzung für Höings Träume von der neuen Gründerzeitstadt ist allerdings das vernünftige Einsetzen des städtischen Bodenrechts. Ein Finanzsenator, der für die Grundstücke der Stadt nach Höchstpreisen schielt, erstickt jede Planungsfreiheit im Keim. Nur mit dem Grundsatz "Konzept vor Preis" lässt sich die "räumliche Kleinteiligkeit mit möglichst vielen unterschiedlichen Bauherren und Programmen" erzielen, die der neue Oberbaudirektor sich für das Hamburg der nahen Zukunft wünscht.
Aber Franz-Josef Höing ist sich sicher, dass seine Kompassnadel der lebendigen Stadtplanung nicht von der Ladung der Kassenkurbel abgelenkt wird. "Ich erlebe hier nicht das permanente Drängeln, dass aus der roten eine schwarze Null wird." Täuscht sich der Neue da nicht in seiner neuen Heimat, dann kann aus der Hamburger Osterweiterung etwas Richtungsweisendes werden, das Vorbild für andere Städte sein kann - mit oder auch trotz der riesigen Kompassnadel.