Süddeutsche Zeitung

Städte:Mainmärchen

Lesezeit: 6 min

Frankfurt hat sich eine neue Altstadt gebaut, in Form einer historischen Attrappe. Aber wie passt das mit den Investorenklötzen zusammen, die drumherum wachsen? Und wie kann Architektur Heimat schaffen?

Von Laura Weißmüller

Wie viel Heimat braucht eine Stadt? Und was ist das überhaupt, eine Architektur, die ein Zuhause für ihre Bewohner schafft? Wer jetzt an das fröhliche Auf und Ab von Spitzgiebeldächern denkt, an Fachwerk und warme Farben - der steht schon mitten in der neuen Altstadt Frankfurts. Da, wo sich das ungeliebte Technische Rathaus befand, eine trutzburgartige Büromaschine zwischen Dom und Römer, drängen sich nun 35 fast fertige Gebäude. Neu möchte man sie eigentlich nicht nennen, so wie ihre Fassaden Vergangenheit spielen.

"Schöpferische Nachbauten" nennt man das in Frankfurt, was deutschlandweit zu den umstrittensten Rekonstruktionen des Landes gehört. Nur beim Berliner Schloss prallten die Lager noch heftiger aufeinander: dort die Altstadtfreunde, die der avantgardistischen Architektur schon mal jegliche Ästhetik absprechen. Da die Befürworter, für die eine solche Rückbesinnung auf die Vergangenheit einem Verrat an der Gegenwart gleichkommt, von der Zukunft ganz zu schweigen.

Ein Kompromiss zwischen beiden Positionen erscheint nicht möglich, dabei sind Frankfurt und Berlin beileibe nicht die einzigen Städte, die um ihre Mitte ringen. Man könnte sogar sagen: In Zeiten eines weltweiten Konkurrenzkampfes zwischen den Metropolen und Touristenströmen, die in immer mehr Gästebetten gelenkt werden wollen, ist der Wunsch nach Lokalität mehr als eine rührselige Vergangenheitssehnsucht. Er ist ein Wettbewerbsvorteil im Städteranking. Die Frage ist, was die Bewohner davon haben.

Was zum Beispiel sagt es über unsere Zeit aus, wenn die Vergangenheit in der Frankfurter Altstadt in Farbe und 3-D die Gegenwart so restlos übertüncht? Ist die eine so viel besser, lebens- und liebenswerter als die andere? Bei der Betrachtung kann einem ganz schwindlig werden, auch weil man den Kopf tief in den Nacken legen muss, um die Fassaden studieren zu können. Etwa die fein geschliffenen Sandsteinkonsolen am Haus "Klein Nürnberg", die leuchtend rot-gelben Laubengänge vom "Hof zum Rebstock" oder das so reich verzierte Fachwerk der "Goldenen Waage". Eine Diplomrestauratorin bastelt dort auf dem Dach mit Katzengold und Pyrit an einem Zierbrunnen für das "Belvederchen", wo schon Goethe seinen Wein getrunken haben soll. Unten können sich unterdessen nur extra schmale Bagger durch die Gassen und Innenhöfe lavieren, so sehr kleben die Häuschen aneinander.

"Klein Nürnberg", "Goldene Waage" - die Stadt, heißt es, habe ihr Herz zurück

"Die Nachkriegsbauordnung wurde gemacht, um genau das zu verhindern", sagt Michael Schumacher und umkreist mit seiner Hand das dichte Areal. Es war der Grund, warum hier einst alles so lichterloh brannte. Der Frankfurter Architekt hat mit seinem Büro Schneider + Schumacher den Masterplan für das Dom-Römer-Projekt seit 2009 betreut. Keine leichte Aufgabe, gerade weil hinter den Fassaden im nächsten Frühjahr ja moderne Geschäfte, Wohnungen und Gastronomie einziehen sollen. Wie das war, die alten Häuser mit moderner Technik aufzubauen? "Horror", sagt Schumacher. Vor allem so etwas wie Brandschutz, Abstandsflächen und Fluchtwege hier reinzubekommen, war schwierig. Das ging nur, indem man das Baugesetz kreativ auslegte und etwa moderne Nachbarbauten wie den Kunstverein den Brandschutz für ihr Gegenüber übernehmen ließ. "Die Frage ist nicht, ob man die Häuser wieder aufbaut, sondern wie sorgfältig man das macht", sagt Schumacher.

Die Stadt hat ihrem eigenen Projekt den Slogan gegeben "Die Stadt lebt" und ihn mit einem roten Herz untermalt. Im Prospekt heißt es: "Nach vielen Jahrzehnten werden die Menschen in der neuen Frankfurter Altstadt wieder leben, wohnen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen können." Frankfurt hat also sein Herz zurück, wer sollte etwas dagegen haben?

Vielleicht der, der nur 700 Meter weiter im Maintor sitzt, einem Neubauquartier aus drei Hochhäusern und mehreren niedrigeren Gebäuden auf dem ehemaligen Degussa-Gelände, das fast gleichzeitig mit dem Altstadtviertel entstand. Hier wird einem nicht schwindlig, hier fühlt man sich lebendig eingesargt. Investorenarchitektur vom Feinsten, das bedeutet: rechteckige, helle Sandsteinklötze, französische Fenster und futtertrogartige Balkone. Die Straßenlaternen hätte man sich wohl sparen können, hier hält sich keiner länger auf, der das nicht muss. Warum auch? Es gibt nichts, was das Auge studieren könnte. Nichts, was der Erinnerung Halt geben und sagen könnte, wo man sich befindet. Und das, obwohl die Gebäude "in erster Reihe am Main" stehen, wie die Immobilienmakler ihr Projekt anpreisen. Frankfurt? Berlin? München? Oder doch Dubai? Es ist eine ortlose Architektur für eine anonyme Käuferschicht. Unbehauste, fast traurige Steinriesen, wie sie zur Zeit in vielen deutschen Städten entstehen.

Wer aber jetzt das eine gegen das andere abwägt, das putzig Kleinteilige gegen das so kalt Hingeklotzte, hat schon verloren. Denn beide Quartiere sind die zwei Seiten einer Medaille. Beide sind Beispiele der Architektur unserer Zeit. Dem fußballfeldgroßen Areal am Dom hat man nur den Auftrag gegeben, den Frankfurtern ein Heimatgefühl zu vermitteln, während man in Sichtweite ein Quartier veröden ließ, statt es den Bewohnern der Stadt zurückzugeben. Der heimatliche Zufluchtsort ist so falsch wie der Lehmputz echt.

Es reicht eben nicht, den Frankfurtern eine Mini-Attrappe ans Herz zu legen und den großen Rest währenddessen ausbluten zu lassen, durch immer mehr Bürohochhäuser und Luxusappartements für Menschen, die offenbar kein Zuhause brauchen, zumindest keines am Main. Eine Stadt kann nur dann so etwas wie Heimat bieten, wenn sie die Zugänglichkeit für möglichst viele bewahrt: für Arme wie Reiche, Kinder wie Alte, neu Hinzugezogene wie hier Aufgewachsene.

Eine so reiche Stadt wie Frankfurt muss sich das leisten. Erst dann können zum Beispiel auch ihre Museen ihre Wirkung als Identifikationsmaschinen entfalten. Bestes Beispiel dafür ist das Historische Museum, dessen Neubau an diesem Wochenende eröffnet wird. Es steht ebenfalls gleich am Römer, ist also touristenumtost und direkt am Main. Bei laufendem Betrieb ist hier an der Stelle eines fensterlosen Betonmonolithen aus den Siebzigern ein Gebäude entstanden, das man solide und vernünftig nennen kann. Das Architekturbüro Lederer Ragnarsdóttir Oei hat auf einen Basaltsockel zum Römer hin einen mächtigen Gebäuderiegel in Form einer Scheune aus rötlichem Mainsandstein gesetzt, dessen Monumentalität durch einen Doppelgiebel etwas zurückgenommen wird. Der gegenüberliegende Altbau bekommt zur Innenseite eine Fassade aus dem gleichen Stein, wodurch ein neuer Platz entstand.

Von hier aus lassen sich die unterschiedlichen Zeitschichten lesen, die jede Stadt erst zu dem machen, was sie ist: ein Stapelwerk der Geschichte. In Frankfurt gehört dazu die in Deutschland einmalige Skyline aus Hochhäusern. Aber auch das schwebende Glashaus der Evangelischen Akademie, das im toten Winkel der Rekonstruktionsdebatte entstand und zeigt, dass Ortsverbundenheit nicht zwangläufig etwas mit Sandstein zu tun haben muss. Und schließlich das einzige Fachwerkhaus, das die Feuersbrunst im Zweiten Weltkrieg wirklich überstanden hat: das Haus Wertheym, errichtet um 1400.

Da Abrisswut, hier die historische Attrappe - wie passt das zusammen?

Der Zufall beziehungsweise die Geschichte wollte es, dass während der Bauarbeiten eine staufische Kai-Anlage zum Vorschein kam. Aus der geplanten Eingangshalle mit einem großen Foyer wurde daher nichts. Dies ist allerdings ohnehin meist nur Platzverschwendung. Dafür hat man den Hafen nun museal inszeniert: Der Besucher kann hinuntersteigen und auf einem kleinen Balkon die Anlegestelle studieren. Diese wird doppelt interessant, seitdem man weiß, dass hier keine Handelsschiffe anlegten, sondern die vornehmen Herrschaften zur Kaiserkrönung.

Und vielleicht ist es genau das, was Architektur können muss, die den Anspruch erheben darf, Heimat zu sein: Sie muss ihre eigene Geschichte lesbar machen. Das können keine Fassaden, die nur ein historisches Gefühl erzeugen wollen, selbst wenn sie handgeschnitzt sind. Das kann nur eine Architektur, die die Bedürfnisse und Nöte ihrer Gegenwart ernst nimmt - und die ihrer Vergangenheit.

Frankfurt hat damit ein Problem. In keiner anderen deutschen Stadt fallen die Gebäude so schnell wie hier. Vermutlich hätte das neue Historische Museum, das in der Dauerausstellung etwas arg dicht gedrängt ist, weil es den Surfgewohnheiten unserer Zeit gerecht werden will, auch nicht derart viele Stadtmodelle gebraucht, wenn die Frankfurter sich nicht ständig an ein neues Gesicht ihrer Heimat gewöhnen müssten. Ein neuer Abrisskandidat ist bereits im Gespräch: Es sind die Städtischen Bühnen aus dem Jahr 1963. Laut einem Gutachten soll eine Sanierung fast genauso viel kosten wie ein Neubau. Prompt fordern nicht nur die meisten Frankfurter Politiker Abriss und Neubau, der Baudezernent Jan Schneider (CDU) erwägt sogar einen an weniger zentraler Stelle.

Das alte Historische Museum hätte man sanieren und umbauen können. Vermutlich sogar das Technische Rathaus, allein: "Dafür gab es keine Partei und auch keine Lobby", sagt Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Die Abrisswut der Stadt ist legendär. Sie passt aber nicht zur Sorgfalt des Dom-Römer-Projekts. Es klingt fast schizophren, aber vielleicht könnte die "neue Frankfurter Altstadt" doch beide Lager versöhnen und den Anstoß für ein Heimatgefühl geben: Dann nämlich, wenn beim nächsten Bauprojekt mit derselben Energie und Sorgfalt ein ähnlich dichtes Stück Stadt geschaffen wird. Und zwar ohne vorher die Abrissbirne zu ordern.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3697216
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.10.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.