Stadtentwicklung:App der guten Hoffnung

Mit "City Scopes" bindet Hamburg die Bürger in die Stadtplanung ein. Auch andere Metropolen interessieren sich für die Software.

Von Till Briegleb

Mitbestimmung ist nichts für Feiglinge. Gerade in der Stadtplanung. Bei den sogenannten Partizipationsprozessen wird oft mit harten Bandagen gekämpft. Ob es um einen neuen Kindergarten in einem Wohngebiet geht oder einen Autobahnzubringer, ob es sich um die Gestaltung ganzer Viertel auf ehemaligen Bahngeländen handelt oder eine denkmalgeschützte Villa, die durch einen Neubau ersetzt werden soll, der Adrenalinpegel in öffentlichen Bürgerrunden, die zur Mitsprache einladen, ist oft hoch.

Das liegt nicht nur an den gefürchteten "Nimbys", den Anrainern, die problematische Projekte überall sonst befürworten, aber "Not In My Back Yard" - nicht in meinem Hinterhof! Längst haben diverse andere Interessensgruppen die Plattform der Bürgerbeteiligung für sich entdeckt: von inhaltlich beschlagenen Aktivisten, die eine grundsätzlich von Investoreninteressen unabhängige Stadtentwicklung fordern, bis zu Freunden der persönlichen Frustbewältigung, für die der Staat das Schuldabonnement auf alles Schlechte in der Welt hat. Moderatoren dieser Beteiligungsforen können einem oft schon ziemlich leidtun.

Dennoch hat sich in den Jahrzehnten des Herantastens bürokratischer Systeme an die Meinung der Bürger viel getan. Ihre ernsthafte Anerkennung als Experten des Alltagslebens, die Veränderungen in ihrer Nachbarschaft weit besser einschätzen können als zugereiste Architekten und Planer vor Bildschirmen, wird zumindest offiziell nicht mehr infrage gestellt - zuletzt wieder in einer Note des Deutschen Städtetags. Aber ein Grundproblem der Konfrontation hat sich seit den Sechzigern, als Stadtplanungsopfer anfingen, renitent zu werden, nicht geändert: Bürgerbeteiligung ist ein Top-down-Prozess. Erst wird geplant, dann wird gefragt. Da ist schlechte Stimmung vorprogrammiert.

Deshalb spottet Kent Larson über die gängige Mitwirkungspraxis mit Abendvorträgen, Stellwänden, Broschüren und anschließend fehllaufender Diskussion: "Wir benützen in der Stadtplanung immer noch 50 Jahre alte Methoden für Entscheidungen, die Millionen betreffen und Milliarden kosten." Larson leitet am Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Abteilung "Changing Places", und er hat zusammen mit Gesa Ziemer von der Hamburger Hafencity Universität (HCU) ein neues Werkzeug erfunden, das bei der Präsentation Anfang Mai in der HCU von den Fachleuten sofort das Prädikat "revolutionär" verpasst bekam: "City Scopes".

Die interaktiven Planungstische, die in der HCU erstmals zum Einsatz kommen, sollen vor allem die Qualität der Kommunikation verbessern. Das erklärte Ziel der "City Scopes" ist es, konkrete Mitwirkung der Bürger am Beginn eines Planungsprozesses zu ermöglichen, wenn die relevanten Entscheidungen fallen. In diesem Fall bei der Suche nach Grundstücken, auf denen Flüchtlingsunterkünfte gebaut werden können.

Wer kein Flüchtlingsheim in seiner Nähe haben will, muss anderswo Flächen finden

In unterschiedlichsten Maßstäben von der Gesamtstadt bis zum einzelnen Flurstück kann die Vogelperspektive der Staatsfläche auf die Tische projiziert werden, wobei jeder Punkt mit relevanten Informationen hinterlegt ist. "Alles Wissen der Stadt" sei mit den Programmen abrufbar, versprach Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz. Durch das Setzen kleiner Lego-Blöcke werden sofort Grundstücksgröße, Nutzung, gesetzliche Beschränkungen, Baumbestand oder die Nähe zu Hochspannungsleitungen angezeigt. Alle Faktoren, die eine Bebauung beeinflussen, hat der Laienplaner zur Hand und kann sie mit seinen persönlichen Ortskenntnissen verbinden, um planungsrelevante Vorschläge zu machen.

Es ist kein Zufall, dass dieses Werkzeug zunächst für den Einsatz bei den Flüchtlingsunterkünften entwickelt wurde. Denn bei diesem Thema laufen die Emotionen in der Bevölkerung besonders schnell aus dem Ruder. Mit der Konzeption der Datentische verfolgte Hamburg deshalb gezielt die Absicht, Bürgerinitiativen und Einzelpersonen, die versuchen, Flüchtlingsunterkünfte in ihrer Nachbarschaft zu verhindern, mit in die Verantwortung für die staatliche Pflicht zur Wohnraumversorgung zu nehmen. "Machen Sie sich unseren Kopf", lud Scholz die Hamburger ein, wohl wissend, dass dieser Vorschlag der eher bösartigen Opposition den Wind aus den Segeln nimmt.

Denn Nimbys und Gaulands, die keinen "Boateng" neben sich wohnen haben wollen, sind in diesen Workshops ziemlich chancenlos. Das Grundprinzip der "Finding Places" betitelten Operation ist die Vernetzung. Wer die bunten Modulhäuschen für Asylsuchende nicht vor seinem Haus haben will, muss woanders Flächen finden, um am Ende die notwendigen 20 000 Unterbringungsplätze für 2016 nachzuweisen. Wer sich an dieser Suche nicht beteiligt, kann später nicht den Staat beschimpfen.

Tatsächlich wirkten an den ersten der 42 Workshop-Runden Ende Mai und Anfang Juni eher gut informierte Bürger mit. Sie fanden nicht nur mehr Flächen, als die Behördenvertreter für möglich gehalten hatten, sie setzten sie auch mit perspektivischen Vorschlägen unter Druck. Warum man hier nur über zweigeschossige Bauten diskutieren dürfe? Wieso die Aufstockung von Flachdächern keine Option sei? Weshalb an geeigneten Stellen nicht gleich für die Dauer gebaut werde, und ob es nicht schlauer sei, gleich Miniwohnungen zu planen, die von Flüchtlingen, Studenten, Lehrlingen, Obdachlosen und älteren Menschen zusammen bewohnt würden?

"City Scopes" stellt gängige Planungsprozesse infrage. Jeder kann nun mitgestalten

Die "City Scopes" erwiesen sich als so produktiv beim Thema Flüchtlingswohnen, dass sie die gängige Entwurfs- und Planungspraxis komplett auf den Kopf stellen könnten. So kinderleicht, wie sich diese Echtzeitverschränkung von Bild, Information und Diskussion für öffentliche Entscheidungsfindungen nutzen lässt, stellt sie die Autonomie von Architekten und Stadtplanern grundsätzlich in Frage.

Gerade in Verbindung mit den üblichen digitalen Entwurfsmodulen, die ein Fassadendesign ebenso per Mausklick ändern können wie die Geschosshöhe, die Kubatur oder interessante Details, ließe sich jedes städtische Projekt mit Nachbarn und Interessierten frei entwickeln. Die ganze Stadt als Bauherrengemeinschaft, die gemeinsam darüber entscheidet, ob ein Viertel kleinteilig und mit historisierenden Fassaden oder mit langen Blöcken und flachen weißen Lochfassaden gestaltet wird, das wäre tatsächlich revolutionär.

In Peking, Portugal und Taipeh, aber auch bei der Umplanung des Berliner Flughafens Tegel nach der Stilllegung, sollen Versionen der "City Scopes" demnächst zeigen, ob sie für einen demokratischen Wandel in der Stadtgestaltung taugen. Zumindest für China ist Skepsis angebracht. Dort ist Feigheit vor dem Volk Staatspolitik.

Aber vielleicht entwickelt das Potenzial dieses digitalen Echtzeitmediums für die Stadt irgendwann die gleiche Bedeutung wie die sozialen Medien für den Arabischen Frühling. Wenn die Menschen einmal begriffen haben, wie man mit diesem vernetzten Werkzeug Einfluss nehmen kann, mag es sein, dass sie das Ende ihrer Unmündigkeit fordern - und eine ganz andere Stadt planen wollen, als die Immobilienentwickler sie heute bauen. Mal schauen, wer zuerst den Mut aufbringt, den Schritt hin zu einer neuen Bürgerstadt zu gehen.

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