Stadelmaier: Parket, Reihe 6, Mitte:Gegen die vielen Nackten

Gerhard Stadelmaier, langjähriger Theaterkritiker der FAZ, will in etwa hundert alten Kritiken seine Geschichte des Theaters erzählen. Leider ist das Buch weniger geworden als die Summe seiner Teile.

Burkhard Müller

Von Friedrich Schiller, der ein Talent dafür hat, die Dinge auf den Punkt zu bringen, stammt der Satz: Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze - womit die schreiende Ungerechtigkeit gemeint ist, dass unter allen Künsten gerade die des Schauspielers, indem sie statthat, aufleuchtend auch sogleich verlischt. Die technische Möglichkeit, den Theaterabend filmisch aufzuzeichnen, hat daran kaum etwas geändert; solche Mitschnitte, selbst die besten, tendieren zum Langweiligen, weil ihnen das entscheidende Kunstelement, die genaue Zeit- und Atemgenossenschaft der Akteure mit dem Publikum, fehlt. Deren Kollegen vom eigentlichen Film haben für ihr neiderweckendes Dauern den hohen Preis bezahlt, von Anbeginn Gespenster sein zu müssen; eingesperrt ins starre Immerwieder, gehen sie um als tote Seelen und haben keinen Teil am Dasein der Bühne, das jetzt glückt oder nie.

Probe der Uraufführung von "S"

Stadelmaier ist, wie es sich für einen Theaterkritiker gehört, ein Konservativer. Gegen die vielen Nackten im Theater (wie hier in der Berliner Schaubühne) ist er nicht, weil er sittlichen Antoß nimmt, sondern weil er den Schauspieler damit zum "privaten Blößling" reduziert.  

(Foto: dpa)

Den Bühnendarstellern aber würde man es so sehr gönnen, dass ihnen in ihrer großmütig verströmten Lebendigkeit jemand doch einen Kranz flöchte! In dieser Hoffnung nimmt man das Buch von Gerhard Stadelmaier in die Hand, des langjährigen Theaterkritikers der FAZ. Er hat darin etwa hundert seiner Kritiken aus den letzten dreißig Jahren zusammengestellt und sie damit vom flüchtigen Medium der Tageszeitung, die ähnlichen ästhetischen Zeitgesetzen wie das Theater unterliegt, auf den festen Boden des Buchs zu transponieren versucht.

Der Titel stimmt diese Hoffnung allerdings sogleich herab; das Buch heißt "Parkett, Reihe 6, Mitte - Meine Theatergeschichte". Nicht die Bühne tritt hier ins Zentrum der Welt, sondern der Kritiker, insofern er sie genießt. Stadelmaier fängt an mit einer "Berufsbeschreibung", in der er zunächst verschiedene andere Kritikertypen disqualifiziert - den verbiesterten "ewigen zweiten Mann", den korrupten Schwerenöter, den "typisch deutschen" fanatischen Masochisten, den Kulturpolitiker, den Nostalgiker, den modischen Opportunisten. Am Ende bleiben wohl wenige befugte Kräfte übrig außer dem Autor selbst.

Nicht als ob Stadelmaier mit dem, was er sagt, unrecht hätte. In einer "Bestandsaufnahme zur Theaterlage der Zeit" nennt er das Übel beim Namen: Das Theater fängt zu wenig an mit dem, was ihm ganz allein gehört, dem konkreten Leben der Schauspieler, und rennt stattdessen dem "Leben" als einer abstrakten Größe hinterher, was zu Exzessen an Geschrei, Gewalt, Blut und anderen Körpersäften führt. Und er macht dafür, mit gutem Grund, vor allem die Zunft der Regisseure verantwortlich, die sich ohne Rücksicht auf Stück und Schauspieler selbst profilieren wollen, indem sie assoziativ und in Gesten der Überbietung versammeln, was ihnen eben so "durch die Rübe rauscht". "Sie spielten nicht Stücke. Sondern ihre Kommentare zu den Stücken. Nicht Figuren. Sondern ihre Kritik an den Figuren."

Damit erweisen sie sich noch im bürgerlichsten Geschmäcklertum als die wahren Erben Bertolt Brechts und seines Theaters der Verfremdung. Für Stadelmaier war dies der Sündenfall, der das Theater an seinen Wurzeln abschnitt, als es seinem Existenzprinzip des Scheins untreu wurde.

Stadelmaier ist, wie es sich für einen Theaterkritiker gehört, ein Konservativer. Er begreift es als sein Amt, die invarianteste und zugleich fragilste Größe, die des Akteurs, der mit seinem Menschenleib in eine Rolle schlüpft, gegen missbräuchliche Einfälle zu verteidigen. Gegen die vielen Nackten ist er nicht etwa, weil er sittlichen Anstoß an ihnen nimmt (wer täte das heute schon noch?), sondern weil er den Schauspieler damit zum "privaten Blößling" reduziert sieht. Nicht Mut zeige dieser, sondern das Gegenteil. "Der Angsthase panzert sich mit seiner bloßen Haut gegen die Zumutung, etwas anderes sein zu müssen als er selbst. Es ist die Angst vor dem Spiel."

Liebe ist nur ein Mord

An solchen Stellen, wo Stadelmaier polemisiert, klug und notfalls paradox, wo er beobachtet, wie blonde Premierenbesucherinnen vor dem neuesten Regiequark in die Hände klatschen und ausrufen "Köstlich! Und so wahr!", während ihre südwestdeutschen Eheherren etwas gedämpfter beisteuern "S'isch ärrägend, nit?" - an solchen Stellen hat das Buch seine klaren Höhepunkte; ebenso dort, wo Stadelmaier seiner herzlichen Verachtung für das Theater Heiner Müllers, Rolf Hochhuths und Elfriede Jelineks die Zügel schießen lässt.

Es ist nicht einmal seine Theatergeschichte

Was das Projekt als Ganzes betrifft, so muss man leider trotzdem feststellen, dass es weniger geworden ist als die Summe seiner Teile. Das, was Stadelmaier vorschwebte, lässt sich nicht durch die schlichte Abfolge von hundert Premierenkritiken erreichen. Es ist nicht die, es ist nicht einmal seine Theatergeschichte geworden. Was einzeln und frisch gedruckt den Leser scharfsichtig und kenntnisreich über ein aktuelles Bühnengeschehen ins Bild setzt, bekommt in der seriellen Häufung und nach der langen seither verstrichenen Zeit etwas Ermüdendes.

Das geht schon mit den Überschriften los, die sich nicht von der sattsam bekannten Titel-Witzelei des Feuilletons lösen können: "Also brach Zarathustra", "Liebe ist nur ein Mord", "Prinzenrolle rückwärts", um nur ein paar zu nennen. Theaterkritiken, und gerade die besten (zu denen diejenigen Stadelmaiers bestimmt gehören) tendieren dazu, ihre Wahrnehmungen in sehr knapper Form zu komprimieren, denn sie haben nicht unbeschränkt viel Platz zur Verfügung und müssen doch zu so vielen Leuten und Dingen etwas sagen, viel mehr als eine Buchrezension.

Das ergibt Sätze wie: "Während Susanne Lothar als Sonja wie in staksender Trance durch diesen Albtraum-Abend vom Kinderzimmer zum Wohnzimmer hin und her schwebt und Andrea Clausen als Inès im blauen kurzen Rock versucht, sich in Gestalt eines schmalen, gefallenen Engels, der zu einem Muttchen-Dasein verdammt ist, in einen Sternennebel und Sancerre-Rauch hineinzuträumen, immer wieder auf den Boden rutscht und am Ende in einer einzigen Bewegung den Tisch abräumt, fängt Henri an zu kriechen." Die Frage lautet nicht, ob der Kritiker das alles richtig gesehen hat, sondern: Wie viele solcher Sätze verträgt man hintereinander weg? Oder, ins Grundsätzliche gewendet: Vermag es ein solcher Text, das Vergangene des Theaterabends in die viel spätere Gegenwart des Leser hinüberzuretten?

Am wenigsten bleibt von dem, was am schönsten war. Mit schneidende Präzision bringt Stadelmaier das ihm Missliebige auf den Begriff. Doch die Augenblicke, in denen das Spiel der Bühne wirklich glückt, entziehen sich seiner Sprache, wie sie sich wohl jeder Sprache entzögen. Da bleibt nur der Ausdruck der Dankbarkeit, der ans Verstummen grenzt. "Wirklich ein schöner Abend", schließt Stadelmaier dann, oder: "Ein paradiesischer Abend", oder: "Es ist unvergesslich", oder, wenn er sich gar nicht anders mehr zu helfen weiß: "Und man wird ja auch zuschauend fast verrückt vor Glück vor dem, was hier gelingt. Wer überhaupt wissen will, was Theater noch kann, der kann es hier wissen."

Er kann es aber nicht wissen, wenn er bloß diese Texte liest. Es hat etwas Rührendes, wie die Kritik sich in demütigem Schweigen vor dem verbeugt, was sie in seinem Übermaß nicht mehr auf einen Namen zu taufen wagt. Zugleich zeigt sich daran scharf ihre Grenze. Indem sie sich vom frischen Bühnen-Eindruck zum Überschwang stimmen lässt, hat sie selbst Anteil an der generösen Verpuffung dieser Kunst. Doch liegt die Wiener Emilia-Galotti-Inszenierung, um die es geht, acht Jahre zurück. In der Zeitung, die am nächsten oder übernächsten Tag erscheint, konnte der Text im Leser den glühenden Wunsch erzeugen, sogleich selbst nach Wien zu fahren, um sich dieses Wunder nicht entgehen zu lassen, und hatte folglich seine reale, aktuelle Aufgabe. Zwischen Buchdeckel gebracht, schrumpft er ein zum bloßen Dokument der Ergriffenheit, zur geringen Spur der Erinnerung, einem getrockneten und gepressten Blümlein. Nein, von der Theaterkritik erwarte man nicht, dass sie die schmerzlich vermissten Kränze flicht; sie gehört (und dies sei ohne Häme gesagt) selbst zu den welkenden Künsten.

GERHARD STADELMAIER: Parkett, Reihe 6, Mitte. Meine Theatergeschichte. Zsolnay Verlag, Wien 2010. 446 Seiten, 25,90 Euro.

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