Mit etwas Mut könnte man einschreiten. Könnte verhindern, dass Wozzeck seine Marie umbringt. Der etwas zögerliche Filippo Bettoschi und die umwerfende Margrethe Fredheim fechten den finalen Beziehungsclinch auf Augenhöhe aus. Auf Augenhöhe mit dem Zuschauer. Sie stehen auf einer dramatisch diagonal durch den Raum führenden Traverse, in sehr luftiger Höhe über der Bühne. Aber eben in der Höhe, auf der auch der Zuschauer sitzt, und zwar an der Seite, aber nicht am Rand, sondern mittendrin.
Am Staatstheater Kassel hat man die Wahl. Entweder man nimmt Platz im Parkett, und schaut sich, wie man das halt immer so macht, von unten das an, was da oben so gespielt wird. Oder man wählt einen Platz im "Pandaemonium". Dann schaut man sich immer noch die Aufführung an, aber man sitzt in ihr. Im Geschehen, irgendwo in dem spektakulären, mehrgeschossigen Stahlgestänge, mit dem Sebastian Hannak den Bühnenraum gefüllt hat, die Seitenbühnen und die Hinterbühne, um das Portal herum und auch ein bisschen in den "normalen" Zuschauerraum ragend. Unter einem, auf dem leicht terrassierten Boden der Bühne, sitzt das Staatsorchester Kassel, weit aufgefächert, und Francesco Angelico dirigiert es mit so bei diesem Stück noch nie erlebter Poesie. Alban Bergs "Wozzeck", per se schon ein Schrei nach Humanität, wird hier zu einem ganz neuem Erlebnis, weil man im Klang sitzt, der den Raum ausfüllt, weil man wirklich jedes einzelne Instrument orten kann und man so ganz unmittelbar erfährt, was die Arbeit eines großen Orchesters ja immer ist: ein Gesamtergebnis hergestellt von vielen Individuen.
Und damit kommt man zum Kern dessen, was Florian Lutz, der neue Intendant am Staatstheater Kassel und Regisseur dieses "Wozzecks", seiner Eröffnungspremiere, hier vorhat. Mit diesem Pandaemonium, einer Raumbühne, mit Hilfe derer man die Rezeption von Musiktheater umkrempeln kann.
Das Moment der Repräsentation hat hier ausgedient. Es wird ersetzt durch ein gemeinsames Erleben aller Zuschauer
Als das europäische Theater erfunden wurde, lebten in Athen etwa 30 000 Menschen und 15 000 passten in Epidauros ins Theater, sie saßen in einem Halbrund um die Orchestra, also der Spielfläche. Das Theater war ein Forum öffentlicher Diskussion, der Politik und auch der Religion, was in der attischen Demokratie wichtig war, wurde hier verhandelt. Viele Jahrhunderte später baute man dann die Kunsttempel, die heute noch stehen. Man schreitet zur Kunst hinan, Häuser wie das Wiener Burgtheater oder die Pariser Oper prunken mit enormen Treppenhäusern, im Vergleich zu denen die Bühne fast winzig wirkt. Das Bürgertum, das hat es vom Adel und dem Hoftheater gelernt, freut sich an der eigenen Zurschaustellung, in der Galerie ganz oben nimmt das einfache Volk Platz, die Kunst wird sorgsam getrennt da vorne auf der Bühne dargeboten, in einer Mischung aus Bildungsauftrag und säkularer Weihe.
Daran hat sich nicht viel geändert. Selbst jene Theater-und Opernhäuser, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstanden und nicht die alte Raumordnung mit den Rängen und Galerien nachahmten, behielten doch letztlich die strikte Trennung bei: Da oben machen Menschen Kunst, dort unten kann man gegebenenfalls auch ein kulturell inspiriertes Nickerchen halten. Das gilt auch für Theater wie in Bayreuth, Frankfurt oder Bochum, die keine Ränge, sondern einen kontinuierlich ansteigenden Zuschauerraum haben. Auch dort kann man vom Geschehen unbehelligt sein Kulturdeputat wahrnehmen.
Florian Lutz ist nicht der einzige Theatermacher, den das wurmt. In der freien Szene arbeitet man schon lange räumlich fluider, am Stadttheater etwa begann Benedikt von Peter vor Jahren in Bremen, die strikte Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne zumindest anzukratzen, verschärfte dieses Vorgehen dann in Luzern und nun in Basel, wo er auch das Foyer zum tagsüber öffentlichen Raum erklärte. Bereits 2003 ließ Claus Guth den Zuschauerraum im Münchner Gärtnerplatztheater überdecken, ließ im Parkett spielen, die Zuschauer saßen in den Rängen, mitten in der Aufführung von Awet Terterjans "Das Beben". Bei zarteren Versuche, den Erlebnischarakter einer Aufführung zu steigern, baut man etwa einen Steg ins Parkett. Oder man geht, wie die Ruhrtriennale, in Industriehallen, stellt dann in diese aber meist eine herkömmliche Tribüne.
Lutz wollte und will mehr, deshalb holten ihn die politischen Entscheider ganz bewusst. In der vergangenen Jahren war er Intendant in Halle, dort wechselte er konsequent zwischen Raumbühnenlösungen, ähnlich wie nun in Kassel, und traditionellem Guckkastentheater ab. In Kassel wird das Pandaemonium, bestehend aus 60 Tonnen Stahlgerüst, mindestens bis Anfang des kommenden Jahres so stehenbleiben. Die Entscheidung dafür wurde auch befeuert von den - inzwischen überholten? - Coronabeschränkungen. Mit Pandaemonium und halbvollen Parkett bringt Lutz fast so viele Zuschauer ins Haus wie bei normaler Vollauslastung; das Orchester hat auf der Bühne auch in großer Besetzung Platz.
Der entscheidende Aspekt der Raumbühne ist aber ein gesellschaftlicher. Für Lutz spielte es in Halle sicherlich eine Rolle, den Wahlerfolgen der AfD ein neues Gemeinschaftsmodell im Theater entgegen zu setzen. In seiner Kasseler "Wozzeck"-Inszenierung gibt es tatsächlich, wenn man so will, einen Rückgriff auf Epidauros. Arnold Bezuyen, der listige Sänger des Hauptmanns, betätigt sich auch als Moderator, führt Abstimmungen mit dem Publikum durch, befragt dieses nach seiner politischen Agenda. Da bleibt dann die Aufführung kurz stehen, oder, wie im Melodram, läuft darunter die Orchestermusik weiter. Die Abstimmungen kann man auf diversen Videoleinwänden mitverfolgen, die auch nötig sind, um dort live abgefilmt das Geschehen mitzuverfolgen, wenn es gerade an Orten stattfindet, die man nicht unmittelbar einsehen kann.
Wozzeck arbeitet als Paketfahrer, Marie wohnt in einer White-Trash-Bude, der Tambourmajor, der umwerfende Frederick Ballentine, ist ein Angeber mit Goldkette. Lutz inszeniert die Begegnungen der Figuren mit großer Unmittelbarkeit, einzig die beiden Wirtshausszenen auf der Vorderbühne schmieren ein bisschen ab, aber die sind ja oft problematisch. Vor allem aber sieht man nie das Kunstergebnis allein, sieht auch dessen Herstellung, kann Sänger beim Schminken beobachten oder auch mal einen privaten Moment vor der nächsten Szene erhaschen.
Das Moment der Repräsentation hat hier ausgedient. Es wird ersetzt durch ein Erleben, ein gemeinsames Erleben aller Zuschauer, unter denen auch die Rang-Unterschiede (wörtlich zu nehmen) aufgehoben sind. Das ist aufregend, spannend, die Zukunft. Der Komponist und Dirigent Pierre Boulez empfahl einst, die Opernhäuser zu sprengen. Muss man nicht. Man kann sie auch einfach umkrempeln.