Es ist an der Zeit, den Begriff des "musical distancing" in die Debatte einzuführen, die Bayerische Staatsoper lieferte bei ihrem Saisonbeschluss Anschauungsmaterial. Am Samstagabend saßen 50 maskentragende Zuschauer im Sicherheitsabstand und trotzdem sehr nah auf der Bühne des Nationaltheaters, zusammen mit Tenor Pavol Breslik, der eine grandiose Deutung des "Tagebuch eines Verschwundenen" sang. Der selten zu hörende Zyklus von Leoš Janáček erzählt expressiv archaisch, wie ein gestandener Bauer durch eine amour fou aus der Welt geworfen wird.
Zwei Tage später saßen dann 100 maskentragende Zuhörer sehr spärlich verteilt in den Rängen des 2100-Plätze-Hauses - das Parkett ist leer - und schauen auf die ferne Bühne, auf der Kirill Petrenko 35 Musiker dirigiert. So steht die Nähe des Janáček-Abends, die Bresliks intensive Verzweiflungsstudie verstärkt, gegen Petrenkos "musical distancing", das die Musik in eine unwirkliche Ferne rückt.
Petrenko hat sich ein stimmiges Programm ausgedacht, von Gustav Mahlers schwer Ich-bezogenen "Liedern eines fahrenden Gesellen" bis hin zu Igor Strawinskys neapolitanischen Comedia dell`arte-Traum im "Pulicinella", angereichert um Arnold Schönbergs Kammersinfonie op.9 und der bemüht komischen "Bürger als Edelmann"-Suite von Richard Strauss. Die beiden größten jüdisch-österreichisch Komponisten werden hier kontrastiert mit den ungewöhnlichsten Balletten der Antipoden Strauss und Strawinsky, die beide Barock anverwandeln, der eine kongenial, der andere in der vollsaftigen Überpinselung. Ganz klar, wer da die Nase vorn hat.
Bei dem grotesken Duo zwischen Kontrabass und Posaune traut sich niemand im Publikum zu lachen
Und auch Schönberg versucht im Kielwasser von Johannes Brahms eine Reanimation überkommener Formen in der Kammermusik, die der Orchesterakademie noch etwas zu sperrig und zu wenig selbstverständlich gelingt. Schönberg ist eben selbst in seinen romantischen Stücken verquer widerständig und Außenseiter.
Das alles ergibt ein Riesenprogramm. In den langen Umbaupausen (das schüttere Publikum bleibt meist brav auf den Plätzen) charivarisieren absichtlich hörbar die Musiker, das nervt. Ein wenig gleicht das einem Seminar, das zeigt, wie die Komponisten nach und nach die Romantik überwinden, am erfolgreichsten und überzeugendsten Strawinsky, eher unbeholfen Strauss.
Komik und Leichtigkeit sind nicht wirklich Petrenkos Metier. Sein Tänzeln und Mitswingen wirkt nicht völlig gelöst. Während der schräge Witz Strawinskys so ganz seine Sache und die des Staatsorchesters ist. Die spielen leicht, virtuos, aufgedreht. Dass sich bei dem grotesken Duo zwischen Kontrabass und Posaune, einem der großen und überwältigend gespielten Kabinettstücke der Klassik, niemand im Publikum zu lachen traut, ist ein Trauerspiel.
Aber vermutlich hat die meisten Hörer vor allem der Tenor Jonas Kaufmann angelockt, der die Mahler-Lieder aus den Noten singt, ganz verinnerlichter Schmerz, meist Zurückhaltung, nur gelegentlich Ausbrüche wagend. Der Star drückt dem Abend seinen Stempel auf. So erweckt dieses Konzert den Eindruck, dem Jetzt weit voraus zu sein, es versucht eine Nach-Seuchen-Normalität herzustellen, die nur durch die wenigen Zuschauer konterkariert wird. So könnte das alles auch vor voll besetztem Haus stattfinden.
Janáčeks "Tagebuch" aber ist bei seinem unerbittlichen Meißeln des Leids eine intime Angelegenheit, die keinen größeren Raum verträgt. Was da Pavol Breslik und die herb dem Rätselhaften ergebene Mezzosopranistin Daria Proszek, der wundervoll Zeit und Klang modellierende Pianist Róbert Pechanec und die nur mit Tisch, Stuhl, Tischdecke und zwei Zimmerpflanzen arbeitende Regisseurin Friederike Blum hinbekommen, ist wundervoll, groß, beunruhigend. Währen Gustav Mahlers Gesell noch ein altes Mann-Frau-Klischee liefert (die böse Geliebte heiratet einen anderen), nimmt sich bei Janáček die Frau, zudem eine gesellschaftliche Außenseiterin, einfach den Mann. Ein Einspruch ist vergebens, weil ihn die Liebe einfach zerschreddert. Dieses "Tagebuch" gehört unbedingt ins Repertoire der Staatsoper.