Wiedereröffnung der "Stabi Ost":"Das war für die junge Nation ein Zeichen"

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Ein monumentales Versprechen: Die sanierte und umgebaute Staatsbibliothek Unter den Linden weckt Erwartungen. (Foto: Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz)

Die Staatsbibliothek Unter den Linden in Berlin ist fertig, mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung. Es ist der eindrucksvollste Co-Working-Space der Stadt.

Von Sonja Zekri

Das Drama akademischer Existenz in pandemischen Zeiten spielt sich im Verborgenen ab. Im Blog der Berliner Staatsbibliothek allerdings tritt die Verzweiflung offen zutage. Die Staatsbibliothek Unter den Linden ist seit einem Jahr geschlossen. Lesesäle, Ausleihe, alles im Lockdown. Was das für Forscher heißt, zeigen die durch Höflichkeit kaum gedämpften Hilferufe. Von Prüfungsordnungen, Verträgen und Projektlaufzeiten ist die Rede, von einer "Zugangsbeschränkung von Wissen", die Freiberufler trifft, nicht aber Universitätsangestellte, und von der naheliegenden Frage, "wie unter solchen Bedingungen in der Stadt halbswegs (sic) qualifiziert geforscht, gelehrt und gelernt werden soll". Ja, wie?

Auch wenn es gerade kein Trost ist, kann man immerhin sagen: Wenn denn eines Tages in der Staatsbibliothek Unter den Linden wieder geforscht werden kann, dann so schön wie seit Jahrzehnten, exakt: wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Bomben hatten das Gebäude stark beschädigt, und die DDR hatte später mehr aus Mangel denn aus Ressentiment die Ruine des großen Lesesaals gesprengt und in den gigantischen neobarocken Büchertempel vier Betontürme für die Magazine gebaut. Die Wiedervereinigung brachte die Zusammenführung der Staatsbibliothek Unter den Linden mit dem Scharoun-Bau in der Potsdamer Straße. Aber vieles, was im Krieg auch in andere Länder, ins damals deutsche Schlesien beispielsweise, in Sicherheit gebracht worden war, kehrte nicht zurück, und heute hat beispielsweise die polnische Regierung kaum Interesse daran, deutschen Anfragen entgegen zu kommen.

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Und bald schon offenbarte sich der katastrophale Zustand des Gebäudes Unter den Linden. 15 Jahre lang - länger als der BER - wurde deshalb renoviert und ein bisschen eröffnet, renoviert und noch ein bisschen eröffnet. 2700 morsche Holzpfeiler wurden durch Stahlbetonstreben ersetzt, die Magazintürme abgerissen und ein neuer großer Lesesaal nach den Plänen des anfangs mit der Sanierung betrauten Architekten HG Merz errichtet. Das Lipman-Regalsystem wurde saniert, eine seinerzeit, also 1914, topmoderne Regalkonstruktion, die das gesamte Haus, nicht nur Millionen Bücher, sondern auch Fassaden und Dach trägt. Die Magazine bekamen endlich eine Klimaanlage, deren silberne Röhren sich wie ein Bandwurm zwischen den Katalogen hindurchwinden. Und schließlich wurde auch die Kuppel auf dem Eingang wiederhergestellt .

In all diesen Jahren lief der Betrieb weiter, die alte Staatsbibliothek, die "Stabi Ost", wurde "am offenen Herzen operiert", sagt die Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf. Und dafür, findet sie, lief es ganz gut. Zu dieser Überzeugung trägt auch der Eindruck bei, dass das Projekt trotz Verzögerungen und Kostensteigerungen auf zuletzt 470 Millionen Euro keine nennenswerte Kritik auf sich zog: "Das Schöne an der Stabi ist, dass man sich nicht rechtfertigen muss."

Der orange lodernde Lesesaal, geplant vom Architekten HG Merz. (Foto: Jörg F. Müller/SPK)

Das ist einerseits richtig, andererseits inzwischen aber auch Ausdruck einer gewissen Dornröschenhaftigkeit. Als der preußische Hofarchitekt Ernst von Ihne Anfang des 20. Jahrhunderts sein Ensemble entwarf, konkurrierte Deutschland mit anderen Wissensnationen. Das Bauvolumen für diesen "Palast des Wissens" entsprach etwa dem des Reichstages, sagt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der die Stabi gehört: "Das war für die junge Nation ein Zeichen." Für Walter Benjamin war die Staatsbibliothek "ein Brennpunkt der Ellipse" seines Lebens in Berlin. Der junge Willy Brandt verbrachte hier seine Vormittage "mit viel Gewinn".

Aber wie viele Menschen - Berliner oder Nicht-Berliner - wissen heute, dass diese Bibliothek das Autograf von Beethovens Neunter und anderer Sinfonien aufbewahrt und 80 Prozent aller Bach-Handschriften, außerdem die größte Mozart-Sammlung? Blockdrucke aus der Ming-Zeit, 1600 Nachlässe, darunter jene von Herder, Hauptmann, Bonhoeffer? Dass historische Globen, eine Million Karten und Pläne die Vermessung der Welt zeigen - wer weiß das schon? Barbara Schneider-Kempf ist überzeugt: All das wissen nicht genug.

Und das Gebäude gab sich ja auch verschlossen. Sieben Jahre lang, während der Sanierung, konnten Mitarbeiter und Nutzer das Haus nur durch den Hintereingang betreten. Im November 2019 wurde der Schlüssel für das runderneuerte Ensemble übergeben, die Rückkehr von Mitarbeitern und Material aber fiel mit dem Ausbruch der Pandemie zusammen. Seitdem ist die Bibliothek Unter den Linden geschlossen - ein monumentales Versprechen auf Berlins berühmtester Straße, der zweitgrößte Bau der Stadt nach dem Stadtschloss, dessen monumentale Attrappe ein paar Hausnummern weiter vor Kurzem eröffnet wurde - und das sich über vieles beklagen konnte, aber nie über einen Mangel an Aufmerksamkeit.

Das Relief zu Bertolt Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters" gibt es natürlich immer noch

An diesem Montag aber wird das inzwischen weitgehend fertigsanierte Ensemble der Staatsbibliothek in einem digitalen Festakt mit Wolfgang Schäuble zwar immer noch nicht ganz eröffnet, aber immerhin so weit, dass sich eine Ahnung von der Sogwirkung der Raumfolge mit seinen Treppenfluchten, Höfen und Prospekten einstellt. Besucher treten künftig wieder von Unter den Linden in den Brunnenhof mit einer meterhohen Fontäne in der Mitte und Skulpturen des DDR-Bildhauers Werner Stötzer aus dem Jahr 1961 zu beiden Seiten: dem "Lesenden Arbeiter", dessen Riesenhände das Buch vorsichtig wie ein Küken halten; und einem Relief zu Bertolt Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters". Für die DDR war dies nicht nur ein gigantischer Wissensspeicher, sondern die Deutsche Staatsbibliothek, eine nationale Institution, identitätsstiftend, systemrelevant.

Der Brunnenhof. Der Wilde Wein an der Fassade hat bei der Sanierung etwas gelitten, aber der wächst sicher bald nach. (Foto: SPK)

Der Wilde Wein, der die Fassade früher wie ein Wandteppich bekleidete, hat gelitten. Aber erstens wächst Wein im Jahr ein paar Meter, und zweitens folgt auf den Brunnenhof das Treppenhaus mit seiner palastwürdigen Freitreppe unter einem Tonnengewölbe, die - empor! empor! - zum Vestibül führt mit Säulen, Pilastern, Galerien und einer Kuppel mit einem leuchtend bunten Majolika-Ring aus farbig glasierten Keramik-Blüten und -Früchten. Früher, das zeigen historische Aufnahmen, war das Licht im Vestibül zwar majestätisch schummerig, aber die Gurtbögen mit bunter Keramik geschmückt. Fröhlich, fanden die einen, Kitsch die anderen. Den Dritten passte der weihevolle Prunk des Büchertempels ohnehin nicht.

Die Uhr des alten Lesesaals blieb um 22.25 Uhr stehen - als die Fliegerbombe einschlug

Bis hierher können alle Besucher vordringen, tiefer hinein aber dürfen später einmal nur Nutzer. Sie werden in die Lesesäle ausschwärmen, darunter auch HG Merz' orange lodernden Kubus des großen Lesesaals, für dessen Fassade eigens ein spezielles Glas geschaffen wurde. Nicht alle Nutzer, denen die Staatsbibliothek jetzt so sehr fehlt, arbeiten auch mit Büchern aus dem Stabi-Bestand. Aber alle schätzen die Ruhe und Weite im eindrucksvollsten Co-Working-Space der Stadt.

Wer den versteckten Gang hinter einer Treppe des Freihandmagazins findet, wird die Uhr des alten Lesesaales entdecken, die so nahe scheint, als könne man die Ziffern berühren. Das Rondell der Uhr hatte den Krieg und die Räumung der Lesesaalruine überstanden, war aber im südlichen Teil des Gebäudes verborgen. Die Zeiger - sie fanden sich im Schutt - stehen auf 22.25 Uhr. Es ist der Zeitpunkt des Bombeneinschlags 1944.

Die Uhr des einstige Kuppellesesaals wurde liebevoll restauriert - die Zeiger stehen auf 22:25 Uhr, das ist der Zeitpunkt des Bombeneinschlags 1944. (Foto: SPK)

Unsichtbar zieht sich die neue Büchertransportanlage durch das Haus, eine Kombination aus Rollbändern, wie man sie von der Sicherheitsabfertigung an Flughäfen kennt, und blinkender Steuerungstafel. Das alles ist ein Riesenfortschritt in einem Haus, in dem die Mitarbeiter vor nicht langer Zeit noch Wägelchen mit Büchern umherschoben. Und doch hat es etwas so erlesen Gestriges, etwas so schützenswert Überholtes, dass einem ganz bang wird, als betrachte man Exemplare einer seltenen Spezies beim Überqueren einer Autobahn.

Eine wirkliche Bibliothek inmitten der Digitalisierung - ist das nicht elitär? Nein, im Gegenteil

Gewiss, Nutzer können gegen eine Gebühr die Digitalisierung von Büchern in Auftrag geben, solange keine Urheberrechte verletzt werden. Aber die Digitalisierung der Bestände hat den Promille-Bereich noch nicht überschritten. Die Stabi Unter den Linden ist eine historische Forschungsbibliothek und eine Präsenzbibliothek, wer ihre Bücher lesen will, muss selbst herkommen. In digitalen Zeiten, in denen der absolute Anspruch auf die Verfügbarkeit alles Geschriebenen und alles Gewussten eine Selbstverständlichkeit ist, könnte das vermessen, ja, elitär wirken. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall.

Neobarock: Die Außenfassade am Boulevard Unter den Linden. Rechts angrenzend die Humboldt-Universität. (Foto: SPK)

Vielleicht liegt es daran, dass digitale Recherchen eine ziemlich zähe Geschichte sein können, vielleicht auch nur an der schockartigen Gleichzeitigkeit so vieler Bücher: Der mächtige Atlas des Großen Kurfürsten, die vielbändigen Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, sowjetische Kataloge aus den Dreißigerjahren, eine Ausgabe von Edward Gibbons "Untergang des Römischen Reiches" von 1820 - alles nur ein paar Schritte entfernt, alles hier - und nur hier - zugänglich. Der absolute Anspruch auf die Verfügbarkeit von Wissen ist verständlich, aber Bücher sind diesem Anspruch nicht immer gewachsen, sie sind vergänglich und scheu, sie zeigen sich nicht jedem, sondern müssen gewollt und gefunden werden. So werden Bücher in der Staatsbibliothek wieder, was sie lange waren: Kostbarkeiten.

Das gilt auch für eine Handschrift im Besitz der Stabi, aus der diese Passage stammt: "Etwa zu Frühlingsanfang des genannten Jahres begann die Krankheit schrecklich und erstaunlich ihre verheerenden Wirkungen zu zeigen", heißt es darin: "Die Seuche gewann umso größere Kraft, da sie durch den Verkehr von den Kranken auf die Gesunden überging, wie das Feuer trockene und brennbare Stoffe ergreift." Es handelt sich, in blasser Tinte auf Pergament geschrieben, um Boccaccios "Decameron".

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