Süddeutsche Zeitung

Tanz:Liebe dich selbst, sonst liebt dich keiner

Lesezeit: 3 min

Zwei Premieren, eine Sehnsucht: Die Stücke "Voices" am Staatsballett Berlin und "Toda" am Staatsballett Hannover bedienen sich bei Paar- und Psycho-Workshops.

Von Dorion Weickmann

Kleiner Tipp für ein amüsantes Ballettpremieren-Erlebnis, unabhängig von der dargebotenen Qualität: Man eruiere, wo pausierende Mitglieder der Tanzkompanie Platz nehmen, und sichere sich einen Sitz in der Reihe dahinter. Kaum etwas verrät so viel über das Innenleben einer Truppe wie das, was mitfiebernde Kollegen während der Vorstellung im Parkett veranstalten. Da wird mitgezittert, mitgewippt, leise gelacht oder laut geseufzt. Sobald sich im Guckkasten Riskantes tut, hält das Beobachterteam die Luft an. Bei "Toda" tritt dieser Moment um die vierzigste Minute ein. Bis dahin haben sich die Tänzer putzmunter durch Nadav Zelners verspielte Kreation geschlängelt. Jetzt schreiten sie an die Rampe der Staatsoper Hannover und lassen sich einzeln in den Orchestergraben fallen. Jeder Aufprall geht ins Ohr, erzeugt nagende Ungewissheit: Ob das gut- und ohne Blessuren abgeht?

Dass Zelner diesen Absturz eingebaut und das Ensemble sich auf die alptraumhafte, weil nie ganz kontrollierbare Situation eingelassen hat - das ist der Kniff, der "Toda" zum Ereignis macht. Was nicht jeder Saisonauftakt in dieser Güteklasse hergibt. Beim Berliner Staatsballett beispielsweise gibt es einen Tag später die opulent manieristischen "Voices" made by David Dawson. Das Resultat: eher Swarovski-Glanz als Solitär-Brillanz.

Nadav Zelner geht in Hannover auf Ego-Entdeckung, David Dawson zieht in Berlin die Menschenrechts-Charta heran

Über alle ästhetischen Unterschiede hinweg bedienen sich beide Uraufführungen aus dem Arsenal der Paar- und Psychoworkshops. Hier wie da geht es um Sehnsucht nach Harmonie und die Liebeslektionen, die Corona der Welt verpasst hat. Doch während Hannovers Staatsballett auf Ego-Entdeckung geht und die Ich-Achtsamkeit feiert, wird in Berlin das ganz große Besteck der Menschenrechts-Charta herausgeholt und mit Pathos-Posen und Pas de deux bebildert. Keine gute Idee, wiewohl aus der Mitte des Ensembles geboren, das in den letzten Jahren von einer Krise in die nächste geschlittert ist. Insofern ist das Verlangen nach einer Portion Seelenbalsam zwar verständlich, aber künstlerisch wenig zielführend. Was umso mehr schmerzt, als die Interimsintendantin Christiane Theobald eine bestens eingeübte Tänzerschar präsentiert, deren Körperstimmen in "Voices" hübsch tremolieren - aber eben nicht unbedingt zum Vorteil der Choreografie.

Der Wahlberliner David Dawson hat sein Können im internationalen Ballettbetrieb vielerorts unter Beweis gestellt. Seine Tanzsprache ist attraktiv, die Port de bras betören mit modernistischer Eleganz: Der Schultergürtel scheint pausenlos zu rotieren, während der Körper zwischen Spreiz- und Kontraktionsphasen wechselt. Eine zarte Rückneigung von Kopf und Dekolleté steigert den filigranen Eindruck, den am Premierenabend in der Deutschen Oper Berlin ein Protagonist geradezu idealtypisch vorzuführen weiß: Olaf Kollmannsperger. Gleichsam als Vorspiel zu "Voices" bestreitet der Ballerino das Solo "Citizen Nowhere", das Dawson 2017 in Amsterdam aufgelegt und als Variation auf Antoine de Saint-Exupérys "Kleinen Prinzen" etikettiert hat. Was ein bisschen wohlfeil und ziemlich egal ist, weil der Tanz federleicht dahinschwebt und sich so intensiv ins Zwiegespräch mit der an die Wände ringsum geworfenen Welt vertieft, dass er einen packt und nicht mehr loslässt.

Kollmannspergers Geheimnis ist: Er bleibt bei sich. Er widersteht der Versuchung, sich in Dawsons verführerisch schöne Formen hineinzugießen und ihre marmorne Glätte zu doppeln. Stattdessen passt er sie der eigenen Körperlichkeit an. Ein ähnliches Phänomen lässt sich danach auch bei "Voices" studieren. Während sich das Ensemble mehrheitlich in den Bewegungsstrom hineinschmeißt und dessen feinere Unterströmungen wegdrückt, geht die Tänzerin Aya Okumura einen anderen Weg: Präzise, ein klein wenig distanziert, nie schwülstig oder überladen formt sie Figur um Figur. Wer einen Dawson so tanzt, verhilft ihm zum Abheben. Alles andere liefert Fassadendekor, ohne die tieferen Wahrheits- und Wesensschichten zu erschließen.

In Berlin also verstellt zu viel Tanzornament die Sichtachsen, in Hannover lotst dafür die Programmheftprosa in eine Sackgasse. Was Nadav Zelner dort als Selbstsuche eines "fiktiven Gött:innenstamms" deklariert, erweist sich auf der Staatsopernbühne als höchst irdische und ungemein menschliche Angelegenheit. Den richtigen Weg weisen Maor Zabors Kostüme, die jedem Tänzer, jeder Tänzerin ein paar exklusiv platzierte Rüschen anheften. Der eine trägt sie am Hals, der nächste am Handgelenk, die dritte im Schritt, der vierte am Arm. Wer all die Volants vor dem inneren Auge zusammenzieht, landet bei dem von Kopf bis Fuß berüschten Fabelwesen, das anfangs vor dem Vorhang thront: ein komplexer und kompletter Organismus, den Nadav Zelner anschließend in Einzelteile zerpflückt, um zu demonstrieren, wie viele mal widerstreitende, mal innig verschwisterte Einzel-Ichs im großen Ego unterkommen.

Zelner, 1992 in Ramla geboren, hat vor allem mit dynamischen Videoclips von sich reden gemacht. Der Israeli gehört zu den Hoffnungsträgern des Gegenwartstanzes, weil seine Arbeiten schräg und rasant, humorvoll und überraschend daherkommen. Auch das Energieniveau von "Toda" - zu Deutsch "Danke" - vibriert wie im Dauerlauf, der Bewegungsmodus gleicht einem Fast-Forward-Syndrom in Echtzeit. Mit einem Höllenzahn rattern die Tänzer durch den Raum, ihre Mimik scheint ganze Comicstrips zu erzählen, während sie einander bezirzen, beschimpfen, beschnattern. Was als faunisches Spektakel beginnt, entwickelt sich zu einer Zivilisationsgeschichte im Zeitrafferformat - Absturz und Auferstehung inklusive. Dass Zelner dabei musikalisch auf nordische Folkloreweisen setzt, ist nur am Anfang befremdlich. Wer in die "Toda"-Botschaft eintaucht, zieht jedenfalls frohen Mutes davon: Liebe dich selbst, sonst liebt dich keiner - und befreunde dich auch mit deinen inneren Feinden.

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