Süddeutsche Zeitung

Kritik an Tanzausbildung:Ungesunde Rivalität

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Von Dorion Weickmann

Der Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik (SBB), Ralf Stabel, und der künstlerische Leiter des angeschlossenen Landesjugendballetts, Gregor Seyffert, müssen ihre Ämter ruhen lassen. Wie die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie der Schulgemeinschaft schriftlich mitteilte, habe man sich "aufgrund der im Raum stehenden Vorwürfe" entschieden, beide "vorübergehend vom Dienst freizustellen".

Die Vorwürfe zu angeblichen Verfehlungen sind der Behörde seit Anfang Januar bekannt. Sie finden sich in einem Dossier, das mehrere anonymisierte eidesstattliche Erklärungen zusammenfasst. Beklagt werden unter anderem Günstlingswirtschaft, Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffigkeit und eine Überlast an Auftritten selbst im Krankheitsfall. Stabel und Seyffert reagierten auf die Zwangsbeurlaubung mit gleichlautenden Statements, in denen sie von "Verleumdungen, Falschbehauptungen" und unbewiesenen "Anschuldigungen" sprachen. Mit der Aufklärung ist eine von der Bildungsverwaltung eingesetzte Untersuchungskommission beauftragt.

Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat sich offenbar erst auf Druck der bildungspolitischen Sprecherinnen der Regierungskoalition zum Handeln entschieden. Die Politikerinnen waren in der vergangenen Woche nach Gesprächen mit Teilen der Schülerschaft und des Kollegiums zu der Überzeugung gelangt, dass die Freistellung von Stabel und Seyffert für eine ergebnisoffene Aufarbeitung der Lage unabdingbar sei. Die schulinternen Konflikte schwelen bereits seit längerer Zeit und haben nun auch Anhänger und Gegner des Leitungsteams gegeneinander in Stellung gebracht. Ein Sprecher der Bildungssenatorin bezeichnet die Situation als "schwierig". Wie sie rasch befriedet werden soll, bleibt unklar.

Offensichtlich besitzt die Berliner Verwaltung weder Expertise im Umgang mit dem Schulprofil noch mit effektiver Krisenintervention. Dabei ist der Fall durchaus exemplarisch. Die SBB ist nach der Wiener Ballettakademie innerhalb eines Jahres die zweite Ausbildungsschule für Profitänzer, die massiv unter Druck gerät. Veraltete und eingleisige Lehrpläne, überkommene Leitungsstrukturen, pädagogisch nicht oder unzureichend ausgebildete Lehrer, mangelnde Transparenz, weder Supervision noch Evaluation des Lehrbetriebs - die Tanzausbildung hat in der Organisationsentwicklung und Didaktik jede Menge Nachholbedarf. Kritiker werfen zudem die Frage auf, ob der Nachwuchs, den sie produziert, überhaupt genug Beschäftigungschancen hat. Um eine einzige Kompaniestelle konkurrieren bisweilen Hunderte Bewerber. Nicht selten wird von Kindesbeinen an eine ungesunde Rivalität gezüchtet - mit elterlichem Segen.

Die Ergebnisse der Untersuchungskommission, die das System durchleuchten soll, könnten Veränderungen bewirken. Anorexie, Mobbing und Grenzüberschreitungen sind keine Tabuthemen mehr.

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Quelle:
SZ vom 19.02.2020
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