Die besten Filme und Lieder:Die Vermessung der Kunst

Squid Game

Auch genormt und auf Zahlen reduziert: Die Teilnehmer des grausamen "Squid Game" in der gleichnamigen Serie bei Netflix.

(Foto: Youngkyu Park/Netflix)

Netflix, Spotify und andere präsentieren ständig neue Hitlisten und Zuschauerrekorde. Was heißt es für Filme, Lieder und die Zuschauer, wenn Zahlen und Daten die Bewertung übernehmen?

Von Nicolas Freund

Falls es sich noch nicht herumgesprochen hat: "Hellbound" aus Südkorea ist die derzeit weltweit erfolgreichste Serie bei Netflix. Es geht darin um böse Sünder, die von Monstern heimgesucht werden, was aber nebensächlich ist. Bei der Nachricht geht es vor allem um die angeblich knapp 70 Millionen Stunden, die das bisher angeschaut wurde. Klingt nach viel Zeit. Andererseits hat Netflix mehr als 200 Millionen Abonnenten, und wenn jeder von denen nur 20 Minuten schaut, ist dieser Wert auch schon fast erreicht. Wo wir gerade dabei sind: Was ist eigentlich aus "Squid Game" geworden? Die Serie, die ebenfalls aus Südkorea kommt, hatte doch erst im Herbst alle Zuschauerrekorde gebrochen. Wie kann es sein, dass sie jetzt schon wieder von einer Monsterserie überholt wurde?

Je nachdem, welchen Zeitraum und welche Daten man betrachtet, wurden "Squid Game" und der vorherige Spitzenreiter "Bridgerton" in absoluten Zahlen auch nach wie vor mehr angeschaut als "Hellbound". Es ist eben nur "derzeit" die erfolgreichste Netflix-Serie, und "derzeit" ist ein dehn- und raffbarer Begriff. Einordnen lassen sich diese Zahlen, die ständig in Umlauf gebracht werden, kaum. Auch weil Netflix erst kürzlich die Erfassung für den Erfolg seiner Inhalte geändert hat: Geschaute Stunden sind jetzt wichtiger als Aufrufe, die womöglich nur wenige Minuten dauern. Aber eigentlich egal, wie genau das ermittelt wird. Was zählt, ist ja der mediale Trommelwirbel.

Hellbound

Selbst vom eigenen Erfolg überrascht? Szene aus der Netflix-Serie "Hellbound".

(Foto: Jung Jaegu/Netflix)

Und dann sind da noch die Verantwortlichen im Silicon Valley und ihre Vorstellung vom Verhalten der Zuschauer. Eine der Ideen, die dort viele Firmenphilosophien beeinflussen, ist nämlich folgende: Unser Begehren gehört nicht uns, sondern ist immer das Begehren anderer. Man könnte auch so sagen: Was jemand anderes hat, möchte ich auch haben. So und so ähnlich haben das schon einige Philosophen und Psychologen behauptet, vor allem der Psychoanalytiker Jacques Lacan und der 2015 verstorbene Literaturprofessor René Girard aus Stanford, der im Silicon Valley zu einer Art Säulenheiligen in den oft leicht nach Räucherstäbchen riechenden Führungsetagen der Tech-Unternehmen geworden ist, wo seine Werke gedeutet und nicht selten esoterisch überhöht werden. Viele Entscheidungen von Firmen wie Netflix basieren deshalb auf dieser Annahme, dass Menschen glauben, was alle anderen gerade wollen, muss gut und begehrenswert sein.

So funktioniert auch der Jahresrückblick der Musikstreamingplattform Spotify, der gerade wieder in allen sozialen Netzwerken geteilt wird: Diese Playlisten mit den vermeintlichen persönlichen Lieblingssongs des Jahres sind ein geschickter Werbecoup, der die gesammelten Nutzerdaten zweitverwertet, die ursprünglich nur zum Weiterverkauf an Werbekunden gedacht waren. Nutzerprofile werden so zu digitalen Werbeplakaten.

Die besten Filme und Lieder: Top-Songs 2021 eines SZ-Redakteurs.

Top-Songs 2021 eines SZ-Redakteurs.

(Foto: Screenshot: Freu)

Die Songs selbst, Musik, Text und Künstler, geraten dabei in den Hintergrund. Wichtigste Botschaft: Es gibt eine neue Liste oder eine meistgesehene Serie. Das Kunstwerk selbst ist im Zeitalter seiner technischen Vermessbarkeit zur Nebensache geworden. Mit Folgen für die Künstler.

Längst sind nicht mehr alle Filmemacher begeistert, wenn ihre Werke bei Streamingdiensten landen, wo sie ein paar Wochen beworben werden und dann oft schnell wieder in Vergessenheit geraten. Dabei geht es nicht nur, aber auch, um viel Geld. Scarlett Johansson klagte in diesem Jahr gegen Disney, weil man ihren Blockbuster "Black Widow" auch bei dem Streamingdienst Disney Plus ausspielen wollte, statt wie vereinbart nur im Kino. Die Parteien einigten sich außergerichtlich, wohl auf einen nicht geringen Millionenbetrag. Duncan Jones, der Sohn David Bowies, war vor einigen Jahren eine Regie-Sensation: Mit dem Indiefilm "Moon" mischte er 2009 die Filmfestivals auf, es folgten der kluge Thriller "Source Code" und die aufwendige Verfilmung des Computerspiels "Warcraft". Dann landete Jones 2018 mit seinem nächsten Film "Mute" bei Netflix, wo er völlig unterging. Der zwingende Rhythmus des ständig Neuen auf diesen Plattformen sorgt kurze Zeit für viel Aufmerksamkeit, lässt die Werke dann aber umso gnadenloser verschwinden. Auch, weil weitere Verwertungskanäle wie DVDs und lineares Fernsehen für die Filme, die früher im Kino gelaufen wären, keine große Rolle mehr spielen.

Diese oft unvermeidbare Verramschung der Inhalte liegt an der Logik der Plattformen, die Kunst und Kultur zu einem Datensatz reduziert und Werken eine neue Ordnung aufzwingt, bei der es fast nur um eines geht: die Auswertung der erhobenen Daten zu Werbezwecken. Was da nicht reinpasst, hat kaum eine Chance. Diese maßgeblich von Google entwickelte Logik durchzieht praktisch alle digitalen Plattformen.

Was nicht ausreichend bewertet, geklickt und angeguckt wird, existiert praktisch nicht

Google arbeitet, im Gegensatz zu vielen anderen Suchmaschinen, nicht mit Verschlagwortungen, sondern ordnet allem einen Wert zu, der auf Faktoren wie Aufrufzahlen und Verlinkungen basiert. Und auf dem Potenzial für den Verkauf von Anzeigen. Dafür ist der tatsächliche Inhalt der Websites und Netzinhalte nachrangig. Was zählt, ist die Verwertbarkeit in der Verschränkung von Datenverarbeitung und Kapitalismus. Dabei geht es längst nicht mehr nur um ein paar Websites: Der Google-Algorithmus und seine zahllosen Verwandten ordnen die Welt neu, von der Suchmaschine über das Spotify-Profil, die Instagram-Story und die Facebook-Timeline bis zu der Kartenfunktion, die fast größenwahnsinnig Google Earth heißt und bei der man auch nachschauen kann, wie gut der Bäcker an der Ecke und der Friseur auf der anderen Straßenseite bewertet wurden. Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, der zu dem Thema mehrere Bücher geschrieben hat, formuliert das so: "Wirklichkeit selbst hat den Charakter einer aufdringlichen Wertform angenommen." Was nicht ausreichend bewertet, geklickt und angeguckt wird, existiert praktisch nicht.

Diese Listen und Rekorde sind so ein wertvolles Marketinginstrument geworden, weil sich damit unsere Aufmerksamkeit dorthin lenken lässt, wo die Konzerne sie gerne hätten. Informationen waren einmal ein rares Gut, heute gibt es mehr Filme, Musik, Bücher, Nachrichten und Bewertungen, als ein einzelner Mensch je anschauen, hören und lesen könnte. Längst haben Tech-Konzerne deshalb die Aufmerksamkeit der Nutzer als neue harte Währung im Internet erkannt, und so tritt nun alles, was einst säuberlich getrennt war, in Konkurrenz zueinander: Filme, Nachrichten, Freundschaften, Debatten, Musik, und während Corona auch noch Teile der Arbeitswelt. Der Netflix-CEO Reed Hastings sagte einmal: "Als Netflix konkurrieren wir um die Zeit unserer Kunden, unsere Konkurrenzfelder umfassen deshalb Snapchat, Youtube, Schlaf usw."

Es wird versucht, alles in die Aufmerksamkeits- und Auswertungsökonomie dieser Plattformen einzupassen. Relevant sind Filme, Serien und Songs in diesem System nicht mehr, weil sie uns die Welt zeigen, wie wir sie noch nicht kannten, oder weil sie es schaffen, uns zu bewegen. Erfolg und damit angebliche Relevanz hat vor allem, was viel geschaut wird und verwertbar ist; was sich in der Aufmerksamkeitsökonomie durchsetzt, ist nicht zwangsläufig das, was gesellschaftlich und künstlerisch wichtig ist, weil es zum Beispiel eine Debatte anstößt oder ein Genre neu definiert. Als relevant gilt, was mehr geschaut wird als "Squid Game". Manche Zuschauer erkannten in der südkoreanischen Serie zwar auch eine Kapitalismuskritik - darum ging es in den Rezensionen und Diskussionen aber kaum, dafür immer um die hohen Zuschauerzahlen und solche Dinge wie Jugendschutz. Entscheidend für den Erfolg ist vor allem die richtige Bewertung durch Algorithmen und nicht, dass etwas gesellschaftlich oder künstlerisch relevant ist.

Teilweise war das natürlich immer so. Populäres setzt sich eben durch, oft auch Qualität, und manchmal hat ein Kunstwerk einfach Glück oder trifft einen Nerv. Filme, Serien und Musik sind nicht automatisch schlecht, weil sie auf einer Hitliste stehen oder viel angesehen werden. Dass gerade koreanische Serien durch die Decke gehen, hat bei Netflix wahrscheinlich auch niemand erwartet. Manchmal funkt eben doch noch die Kunst dazwischen. Das ist eine gute Nachricht, denn sie bedeutet: Was Kunst ausmacht, liegt außerhalb der Macht dieser Konzerne.

Neu ist aber, dass es bei der Erstellung solcher Listen oft nur noch um Korrelationen mit anderen Daten geht, nicht mehr um Kausalitäten in der wirklichen Welt. Denn etwas zu bedeuten, einen ästhetischen Anspruch zu haben, Kritik zu üben, reicht nicht mehr, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Was die Zuschauer bewegen könnte oder für ihre Lebenswelt relevant wäre, ist egal. Was sie aufrufen, zählt, und zwar wortwörtlich.

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