Spurensuche:Versprechen vom Aufbruch

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Als Donatello seinen David schuf, war Sodomie verboten, aber weit verbreitet.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Donatello versteht Davids Erotik als Spiel der Wünsche.

Gerade legte der amerikanische Datenpsychologe Michal Kosinski mit einem Mitarbeiter eine Studie vor, wonach Computer insbesondere bei Männern angeblich mit hoher Wahrscheinlichkeit deren Hetero- oder Homosexualität aus den Gesichtern ablesen können ( SZ vom 14. September). Die Autoren, die Fotos aus Datingportalen auswerteten, glauben, die (behaupteten) physiognomischen Unterschiede seien auch hormonell bedingt.

Das klingt nach einer Fortsetzung der fragwürdigen physiognomischen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit modernen Mitteln. Es suggeriert eine Eindeutigkeit der sexuellen Orientierung, die der Frühen Neuzeit noch fremd war. Im Florenz der Renaissance hieß männliche Homosexualität Sodomie, und sie galt nicht als Pathologie oder angeborener Makel, sondern als verbreitetes moralisches Fehlverhalten. Rund 70 000 Florentiner sahen sich mit dem Vorwurf der Sodomie konfrontiert, dies war ein großer Teil der Männer. Man konnte Sodomiten anonym bei eigens dafür abgestellten "Beamten der Nacht" denunzieren, die allerdings die meisten Anklagen fallenließen.

Tatsächlich pflegten nicht wenige Florentiner Männer unabhängig von ihrem Verhältnis zu Frauen erotisierte Beziehungen zu Jünglingen. Einem Heranwachsenden auf der Straße den Hut zu stehlen, galt als Zeichen von Interesse. Mag sein, dass dies ein Teil der Sexualgeschichte ist, vor allem aber ist es Kulturgeschichte. Denn der Figur des schönen jungen Mannes wohnte ein Versprechen von Aufbruch, Mut und Unverdorbenheit inne. Er war, wie die Stadtgesellschaft am Arno sein wollte: nicht erstarrt, sondern innovativ, nicht resigniert, sondern neugierig, tatkräftig und unschuldig. Er war David, der Goliath besiegt. Und so wurde die Figur des David zum Repräsentanten der Florentiner Republik. Sein frischer Eros war nicht nur der Sex-Appeal der Jungen, sondern der Freiheit an sich.

Wie der Kunsthistoriker Adrian W. B. Randolph gezeigt hat, spielt Donatello in seiner Bronze des nackten David mit den virilen, homosozialen Sehnsüchten der Florentiner. Doch dieser Jüngling ist nicht einfach zu haben, er behält seinen eleganten Hut auf dem Kopf und tritt auf das Haupt des Älteren, anstatt ihm zu Willen zu sein. Donatellos David ist so sexy wie unerreichbar. Und er zeigt allen, dass Erotik, sei sie hetero- oder homosexuell, mehr ist als ein breites Kinn oder die Form der Wangenknochen; sie ist ein Spiel der Wünsche.

© SZ vom 16.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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