Süddeutsche Zeitung

Spurensuche:Verspätung

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Was hat es, philosophisch gesprochen, zu bedeuten, wenn alle S-Bahnen zu spät kommen?Mal den ÖPNW-Experten Jacques Derrida fragen.

Von Bernd Graff

Die Welt verändert sich, nicht aber die großen Fragen. Wir suchen in Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Die in München Gebliebenen erleben wieder: Die Verspätung. Und kein Zeichen, nirgends.

Wenn man in München sein Dasein fristet, stellt man fest, dass man dauernd festgestellt ist. Dass man also unfreiwillig nicht weiterkommt, der Alltag stockt, das Leben den Rhythmus verliert. Die Gründe dafür haben fast immer mit Personenverkehr zu tun - nah, fern, öffentlich, privat. Dem Kraftfahren fehlt die Kraft, der Verkehr verkehrt sich in sein Gegenteil, und die Beförderung fordert schon deshalb, weil sie nicht stattfindet.

So tritt zweierlei ein. Zum einen: die Verspätung. Zum anderen: das Warten auf das, was sich da verspätet. Und während man also in der Hitze wartet, sagen wir an einem der trostlosen S-Bahnsteige, die München so zu bieten hat, fällt einem beim Blick auf die leeren Gleise, die ja die baldige Präsenz einer S-Bahn versprechen, eines der Bonmots von Jacques Derrida (1930 bis 2004) ein: Die Spur der Verspätung. Wenn also unsere Spurensuche diesmal kein Kunstwerk, sondern den Topos eines Vordenkers des Poststrukturalismus aufruft, dann wird deutlich, dass die Seins- und S-Bahn-Verspätung des immerzu ruhenden Münchner Verkehrs nachheiderggersche Ausmaße angenommen hat.

Und: Sie ist so sinnlos. Denn "Verspätung" meint für Derrida die fehlende Präsenz von Sinn, dem total erschöpfte Zeichen nur nachjagen können, aber leider immer zu spät kommen. Sinn und Bedeutung befinden sich im Status permanenter Flüchtigkeit. Die sprachlichen Zeichen, und mehr haben wir ja nicht, die nach dem Semiologen Ferdinand de Saussure (1857 bis 1913) säuberlich in Signifikat ( signifié), ihre Bedeutungsseite, und in Signifikant (signifiant), ihre Zeichenseite, getrennt waren, aber fest an der langen Leine ihres Sinns liefen, sind bei Derrida aufgelöst in Spiele lediglich bedeutungswollender Kräfte. Doch darin beziehen sich Zeichen immer nur auf andere Zeichen. Ein Bezeichnendes hechelt seinem Bezeichneten immer nur hinterher, sieht allenfalls Spuren, die es hinterlassen haben könnte. Wer also an Münchner S-Bahnhöfen in der Spur der Gleise, den Zeichen für Beförderung, die baldige Präsenz einer S-Bahn erkennen möchte, dem sei Derridas Donnerwort gesteckt: "C'est à l'aide du concept de signe qu'on ébranle la métaphysique de la présence." ("Mit dem Konzept des Zeichens erschüttert man die Metaphysik der Präsenz") - Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/Main 1972, S. 422-442, hier S. 425.

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Quelle:
SZ vom 04.08.2018
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