Spurensuche:Henri Cartier-Bresson, Hinter dem Gare Saint-Lazare

Spurensuche: Hinter dem Gare Saint-Lazare, 1932.

Hinter dem Gare Saint-Lazare, 1932.

(Foto: H. Cartier-Bresson/Magnum Photos/Focus)

Die Welt verändert sich ständig, nicht aber die großen Fragen, die die Menschen bewegen. Ein Foto-Moment von vor fast neunzig Jahren wirkt, als künde er schon von kommendem Unheil.

Von Harald Eggebrecht

Nichts Ungewöhnliches in diesen Junitagen, dass es tagsüber leicht schwül wird, und so geradezu regelmäßig Gewitter und Regengüsse folgen. Die Statistik der letzten rund hundertfünfzig Jahre besagt, dass im Ganzen die Unwetterzahl nicht zugenommen habe. Doch die Intensität im einzelnen ist gestiegen.

Der Wetterbericht redet dann von Starkregen, Hagel, Tornadogefahr. 1932 "erwischte" der berühmte französische Fotograf Henri Cartier-Bresson hinter dem Pariser Gare Saint-Lazare einen Mann mit Hut beim Versuch, über eine Riesenpfütze zu springen; im Hintergrund das Großplakat einer Tanzveranstaltung und zwei Anschläge für ein Konzert des Pianisten Alexander Brailowsky. Beides weist auf Leichtigkeit und Virtuosität hin, und der Sprung wirkt im "moment décisif", dem entscheidenden Moment, den der Fotograf einfing, auch leicht, schwebend überm Spiegelbild im Wasser, als sei er ein Bruder im Geiste von Tänzern und Klavierequilibristen. Doch das Foto sieht auch gleichsam voraus ins Unsichtbare, aber gleich Geschehende: Der Springende wird in der Pfütze landen, nass sind Schuh und Strümpfe.

Ein prophetisches Bild: Der Mensch, wohl angezogen mit Hut, hüpft aus vollem Lauf ins Wasser. Regenwasser, das inzwischen Orte überfluten, Berghänge in tödliches Rutschen bringen kann, Bäche zu reißenden Strömen anschwellen lässt und mit Überschwemmungen Großstädte und Landstriche bedroht. Es gebe keinen Klimawandel, höhnen Präsidenten und Politiker, es brauche Augenmaß und Realitätssinn, auch wenn Wissenschaftler unentwegt warnen, dass höchste Entscheidungseile geboten sei, um wenigstens die schlimmsten Folgen der selbst verschuldeten Erderwärmung zu mildern. Lieber, das scheint gewiss, versuchen überall auf der Welt die Unbelehrbaren den verzweifelten Sprung, dessen Schweben Cartier-Bresson festhielt, der aber unausweichlich in der Katastrophe enden wird.

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