Spurensuche:Gruppenzwang

Edvard Munch - Evening on Karl Johan Street

Edvard Munchs "Abend auf der Karl-Johan-Straße" (1892 bis 1894) hängt im Kunstmuseum Bergen.

(Foto: oh)

Ein Individuum kann man einschätzen, aber wer weiß, was von einer Menschenmasse zu erwarten ist? Edvard Munch malte sie als düstere Bedrohung.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Menschenansammlungen können furchterregend sein.

Menschen haben Geschichten und Gesichter, aber was hat die Masse? Ein Individuum lässt sich verstehen, wenn man ihm zuhört, seine Erfahrungen kennenlernt und seine persönliche Art, die Welt zu sehen. Eine Masse an Menschen lässt sich nicht so leicht erfassen. Wer sind denn "die" Arbeiter, "die" Bayern oder "die" Großstädter, und was wollen sie vom Leben?

Wahrscheinlich sind sie sehr unterschiedlich, und doch mögen sie sich mit den Sammelbegriffen identifizieren. Nur dass jeder etwas anderes drunter versteht, nämlich das, was ihm oder ihr am besten passt. So sind dann "die" Münchner wahlweise weltgewandt oder traditionsbewusst, "die" Frauen allesamt besonnen oder besonders emotional. Die Masse bietet sich für die verschiedensten Zuschreibungen an. Schwierig wird das, wenn es einigen wenigen gelingt, die Deutungshoheit über ganze Gruppen zu erlangen. Dann sind "die" Stahlarbeiter alle fremdenfeindliche Nationalisten und "die" Deutschen haben nun genug von den vielen Flüchtlingen. Irgendwann kann es passieren, dass solche Fremdzuschreibungen in die Selbstbilder einwandern. So funktioniert Populismus, insbesondere, wenn er massenmedial agiert, wie es gerade in den USA der Trump-Berater Stephen Bannon mit seinen Meinungsmachmaschinen Breitbart & Co vorführt.

Die Angst vor manipulierbaren Gruppen, die aus verunsicherten Individuen bestehen, trieb schon das 19. Jahrhundert um. Die Erkenntnisse Darwins kränkten die Menschen in ihrem Gefühl von Einzigartigkeit; die im Entstehen begriffene Psychologie erklärte den Leuten ihre Wunden. Die Zeit absoluter Herrscher war vorbei. Regierende wussten nach mehr oder weniger geglückten Revolutionen um die Macht der Massen.

Furchterregend wirkt der Strom an Passanten, den Edvard Munch 1892 bis 1894 im heutigen Oslo erfasste. Hohl sind ihre Wangen, die schwarz gekleideten Leiber zerfließen ineinander, die Köpfe wirken wie gefühlslose Masken. Nicht nur die Gesichter, auch die Hüte ähneln sich. Die Menge marschiert auf die Betrachter zu, rücksichtslos bahnt sie sich ihren Weg. Vielleicht will sie uns, die wir alleine sind vor dem Bild, niedertrampeln. Man möchte schnell nach rechts zur Seite springen und die Straße in entgegengesetzter Richtung nehmen, so, wie es der einzige Individualist auf dem Gemälde tut, ein einsamer, freier Zylinderträger in Rückenansicht.

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