Süddeutsche Zeitung

Spurensuche:Freiheit durch Form

Die Welt verändert sich, nicht aber die großen Fragen. Der Ruhm des Sprechers des Unterhauses hätte dem Denker Hans Kelsen gefallen.

Von Jens-Christian Rabe

Die Welt verändert sich, nicht aber die großen Fragen. Wir suchen in Kunst und Theorie nach neuen alten Motiven. Der Ruhm des Sprechers des Unterhauses hätte dem Denker Hans Kelsen gefallen.

Zu den Videos der zurückliegenden Woche gehörten sicher auch die, die den knorrigen britischen Politiker John Simon Bercow bei der Arbeit zeigten. Bercow ist seit 1997 Abgeordneter des britischen Unterhauses, des "House of Commons", vor allem aber seit 2009 dessen Sprecher. In dieser Funktion, die es seit dem Jahr 1258 gibt, ruht seine Mitgliedschaft in der konservativen Tory-Partei, damit er sich ganz auf die Neutralität konzentrieren kann, die für seine Rolle als Sitzungsleiter vorgesehen ist. Dabei - und damit sind wir wieder in der Gegenwart der hitzigen Brexit-Debatten im britischen Parlament der vergangenen Tage - gehört es zu seinen wesentlichen Aufgaben, allzu aufgebrachte und laut dazwischenrufende Abgeordnete souverän, aber äußerst bestimmt zur Ordnung zu rufen. Oder wie John Bercow das englische Wort "Order" aussprechen würde: "Ordääääh!"

Mit politischer Gestaltungsmacht hat das natürlich nichts zu tun, es ist allein die sture Arbeit an der Schaffung der Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie. Aber ist das in aufgewühlten Zeiten wie diesen, in denen so viel vermeintlich glücklich Überwundendes oder Errungenes wieder zur Disposition gestellt wird, nicht doch auch ein genuin politischer Akt? Ein echter Höhepunkt ist in diesem Sinn auf jeden Fall auch die Szene, in der Bercow energisch darauf hinweist, dass es auf keinen Fall geduldet werde, dass ein Redner oder eine Rednerin im Unterhaus niedergebrüllt werde. Denn das sei nicht nur unmoralisch, sondern "ausnahmslos zum Scheitern verurteilt".

Die schiere Unmoralität einer Sache und die Tatsache, dass jemand einfach behauptet, eine unzivilisierte Handlung sei zum Scheitern verurteilt, sind unter Menschen natürlich leider keine hinreichenden Gründe dafür, dass etwas nicht doch erfolgreich ist. Wünschenswerten Haltungen und die energische Verteidigung ziviler, liberal-demokratischer Überzeugungen müssen durch geltendes Recht vor allem auch formal gestärkt werden. Ohne Formen kann es keine Freiheit geben. Ganz so wie es der österreichische Rechtstheoretiker und Jurist Hans Kelsen sah, für den der moderne Staat nicht ein Volk, ein Gebiet oder eine Gewalt ausmachten, sondern das Vorhandensein einer objektiven Rechtsordnung. Bei einer Staatsgründung kann diese Inhaltslosigkeit ein Problem sein, wenn - wie im Moment - die liberale Demokratie unter Druck gerät, ist es ein kluger Hinweis zur Besinnung - und Ordnung!

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Quelle:
SZ vom 19.01.2019
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