Spurensuche:Der letzte Akt

Tintorettos Christus vor Pilatus aus San Rocco in Venedig

Tintoretto malt in den Jahren 1566/67 in San Rocco in Venedig Christus vor Pontius Pilatus.

(Foto: OH)

Begnadigungen auszusprechen ist das Privileg eines Herrschers. Tintoretto malte Pontius Pilatus als einen Herrscher, der zwar alle Macht hat - aber nicht das Verantwortungsgefühl, sie auch im richtigen Moment einzusetzen.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Im Gnadenakt zeigt sich, ob ein Herrscher human handeln kann.

Jemanden zu begnadigen, setzt voraus, dass man das kann: qua Amt über das Schicksal eines anderen zu entscheiden. Das hat Barack Obama nun getan, als er der Whistleblowerin Chelsea Manning Strafnachlass gewährte. Sie muss keine vollen 35 Jahre im US-Militärgefängnis verbringen, sondern kommt nach sieben Jahren Haft in diesem Frühjahr frei. Neben allem politischen Kalkül ist dies eine humanitäre Geste: Als Transgender-Frau ohne Perspektive in einem amerikanischen Männergefängnis einzusitzen, ist eine Strafe, die niemand verdient.

Die archaisch anmutende Machtfülle, die dem Gnadenakt innewohnt, kann in demokratischen Gesellschaften irritieren - ihr entspricht auf der anderen Seite aber die Idee, der Herrscher handele als kluger und verantwortungsvoller Mensch. Nicht Willkür soll und will er demonstrieren, sondern seinen angeblich überlegenen Sinn für Gerechtigkeit. Deswegen kann er in dieser Rolle scheitern.

Wie das dann aussieht, zeigt ein Gemälde Tintorettos, das in Venedig in der Scuola Grande di San Rocco hängt, die er komplett ausmalte. Ein Raum, die Sala dell'Albergo, wird von einer erschreckend lebensnahen Kreuzigungsszene dominiert. Gegenüber zeigt Tintoretto, was dem vorausging: Christus tritt vor den römischen Statthalter Pontius Pilatus, der ihn vor der Hinrichtung bewahren könnte, wenn er denn mutig genug wäre, sich gegen den Volkszorn zu stellen. Das ist er aber nicht. Pilatus hält sich heraus, wäscht seine Hände, wie er meint, in Unschuld - und ist bei Tintoretto nicht einmal fähig, der Lichtgestalt Jesus Christus in die Augen zu blicken. Die Szene notiert zu Füßen der beiden ein Chronist, dessen weißer Mantel ihn mit dem strahlenden Christus verbindet. Nur weil Pilatus als gerechter Machthaber scheitert, erfüllt sich der christliche Heilsplan.

Wer aber wie Manning keinen Märtyrertod erleiden oder weiter im Gefängnis vegetieren will, ist auf echte Gnade angewiesen. Mit diesem letzten Akt nun kann Obama sich schmücken.

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