Spurensuche:Das Leak

Lagebericht aus Weimar: Schon zu Goethes Zeiten drangen Indiskretionen an die Öffentlichkeit. Die Zeitschrift "Nemesis" veröffentlichte 1818 einen Geheimbericht des Journalisten und Denunzianten August von Kotzebue.

Von Gustav Seibt

Die Welt verändert sich ständig nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in Kunst und Literatur nach wiederkehrenden Motiven. Schon zu Goethes Zeiten drangen Leaks an die Öffentlichkeit.

Die Spur besteht aus einem halben Dutzend unbedruckter Seiten in einer Zeitschrift vom Januar 1818. Der Text, der hier hatte stehen sollen, wurde der Öffentlichkeit entzogen. Und das gelang so gut, dass er heute kaum noch auffindbar ist. Denn er war geleakt worden, er war gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Verfasst hatte ihn der Journalist und Dramatiker August von Kotzebue, der erfolgreichste Theaterautor der Goethe-Zeit. Kotzebue arbeitete auch als Agent für den russischen Zaren und versorgte diesen mit Indiskretionen zum deutschen Literaturbetrieb, vor allem aus Weimar. Kotzebues Berichte waren höhnisch und anschwärzend, auch politische Denunziationen. Die fortschrittliche studentische Jugend verachtete, ja hasste den aus der Mode gekommenen Schriftsteller als Reaktionär. Auf der Wartburg waren 1817 Bücher von Kotzebue verbrannt worden.

Vom Presseskandal war Goethe nur noch genervt - er zog sich in sein Wirtshaus zurück

Groß war daher das Hallo, als der Jenaer Professor Heinrich Luden Kotzebues Geheimbericht, den ein Abschreiber ihm zugespielt hatte, in die Nemesis einrückte, eine von Luden redigierte "Zeitschrift für Politik und Geschichte". Die Aushängebogen, die schon kursierten, wurden von der Weimarer Obrigkeit beschlagnahmt. Doch die skandalösen Blätter kursierten weiter, und zwei andere Zeitschriften kündigten den Abdruck der Kotzebue-Papiere an. Der Volksfreund und die Isis, so ihre Namen, wurden daraufhin verboten, obwohl die Weimarer Verfassung von 1816 als erste in Deutschland Freiheit der Presse zugesagt hatte.

Goethe, damals in Jena mit dem Umbau der Universitätsbibliothek beschäftigt, wurde Zeuge des aufgeregten Streits wegen dieses Presseskandals. Abzüge der konfiszierten Fahnen hingen ganz offen in der Crökerschen Buchhandlung "am schwarzen Brett" und "gingen reißend ab", vermerkte er am 21. Januar 1818 in seinem Tagebuch. Keine Abendgesellschaft ohne hitzige Debatten, kein Tag ohne besorgte Briefe aus der Residenz Weimar, wo Goethes Kollege, Staatsminister Voigt, die Presseverbote in Dekrete fassen, den Großherzog und den wütenden russischen Gesandten besänftigen musste. "Preßfreiheiterei" nannte Goethe in einem Brief diesen Aufstand.

Der Meinungsstreit polarisierte die gelehrten Geselligkeiten, die Goethe sonst so schätzte, dermaßen, dass er sich in sein Arbeitsquartier, das Wirtshaus zur Tanne am Saale-Ufer, zurückzog. "Meine Wohnung auf der Tanne wird mir dreifach lieb", schrieb er nach Weimar, "ich komme dadurch aus aller Berührung mit den Menschen, die, wie sich allgemein und öffentlich beweist, sich ihrer Denkart dergestalt hingegeben haben, daß einer, der sie nicht leidenschaftlich mit ihnen teilt, nicht zehen Worte sprechen kann, ohne sich zu befeinden."

Die Antwort auf den Kampf der Meinungsblasen wurde für Goethe immer mehr das öffentliche, unüberhörbare Schweigen.

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