Spurensuche:Blutiger Himmel

Spurensuche: Im Jahr 1893 hat Edvard Munch den "Schrei" zweimal gemalt. Hier die zweite Version.

Im Jahr 1893 hat Edvard Munch den "Schrei" zweimal gemalt. Hier die zweite Version.

(Foto: dpa/Munch-Museum Oslo)

Wie Angst und Verzweiflung ein Gesicht zeichnen, das hat kaum ein Künstler so eindringlich gezeigt wie Edvard Munch mit "Der Schrei".

Von GOTTFRIED KNAPP

Die Bilder von Menschen, denen die Schrecken eines eben erlebten blutigen Attentats ins Gesicht geschrieben sind, teilen heute wohl am ehesten etwas von dem Gefühl mit, das wir als Angst bezeichnen. Als der norwegische Maler Edvard Munch am Ende des 19. Jahrhunderts seine Angstanfälle in Bildern auszudrücken versuchte, bezog er sich nicht auf kollektiv erlebte physische Katastrophen wie Attentate oder Überschwemmungen, sondern ausschließlich auf die Katastrophen im eigenen Inneren. Vergleicht man die von ihm über die Jahre hinweg in selbstquälerischer Intensität bearbeiteten Themen "Melancholie", "Verzweiflung", "Angst" und "Der Schrei", dann sieht man, dass die depressiven Schübe sich stets in offenen Landschaften ereignen. In allen Versionen prallen Meer und Land unter einem verdüsterten Himmel dramatisch aufeinander. In "Melancholie" ist dem sitzenden Mann im Vordergrund der Kopf nach unten gesunken, während im Hintergrund auf einem Bootssteg ein Paar sich tummelt. Dieser Holzsteg mit den beiden Figuren an der Spitze wird in den folgenden Bildern zum Podium für das emotionale Ereignis: Der Steg schiebt sich mit seinem Geländer schroff diagonal durchs Bild und reißt perspektivisch eine Tiefe auf, die den Blick soghaft in die Landschaft mit dem blutig gestreiften Abendhimmel hinauszieht. In "Verzweiflung" hängt die Figur im Vordergrund erschöpft über das Geländer. In "Angst" kommen schemenhaft blasse Figuren mit weit aufgerissenen Augen auf dem Steg nach vorn geschritten.

Die schockierendste Vision des Heimgesuchtwerdens von Ängsten ist Munch aber im "Schrei" gelungen, der eigentlich "Das Geschrei" heißen müsste. Denn die gekrümmte Figur mit den schreckgeweiteten Augen und den auf die Ohren gedrückten Händen stößt ja nicht selber den Schrei aus, nein sie reagiert in panischer Verzweiflung auf das von Munch genannte "große Geschrei", das "durch die Natur" tönt, auf das kosmische Drama, das sich in der Landschaft zu vollziehen scheint. Welche Dinge aber die Figur bei ihrer Reaktion real vor Augen hat, bleibt ein Geheimnis.

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