Süddeutsche Zeitung

Spurensicherung:Obsessive Energie

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Der Historiker Carlo Ginzburg wird 80. Seine Gedanken zur Geschichtsschreibung sind in Zeiten von Fake und Fiktion aktueller denn je.

Von Lothar Müller

Im Jahre 1599 wurde Domenico Scandella, ein Müller aus dem Friaul, von der Inquisition zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er konnte lesen und schreiben und hatte sich seine sehr eigenen Gedanken über Gott, die Elemente, die Welt und Maria gemacht. Im 20. Jahrhundert erlebte "Menocchio", wie er in seinem Dorf genannt wurde, in dem Buch "Der Käse und die Würmer" (1976) des italienischen Historikers Carlo Ginzburg eine grandiose Wiederauferstehung.

Er wurde zu einem Kronzeugen und frühen Helden der "Mikrogeschichte", die sich einzelnen Menschen, abgelegenen Dörfern, vergessenen Episoden und Ereignissen zuwandte, um aus ihnen Aufschluss über die Epochen zu gewinnen, denen sie angehörten. Bei Menocchio zum Beispiel ging es um das Zusammentreffen von Theologie und Handwerk und um das Verhältnis von oraler Kultur und dem neuen Medium des Buchdrucks. Im Anfang war das Wort, stand im Johannesevangelium. Bei Menocchio stand im Anfang das Chaos, in dem die Elemente als Masse eine ähnliche Rolle spielten wie der Käse in der Milch.

Und wie aus dem Käse die Würmer gingen aus der Masse die Engel hervor. Die Mikrogeschichte, die von einer Gruppe italienischer Historiker um Ginzburg und Giovanni Levi sowie französischen und amerikanischen Kollegen vorangetrieben wurde, führte nicht nur zu Debatten in der Geschichtswissenschaft, sondern auch zu Bewegungen auf dem Buchmarkt. Sie fand großen Anklang beim Publikum, und warum das so war, konnte man schon an ihren Titeln ablesen, etwa an Emmanuel Le Roy Laduries "Montaillou: Ein Dorf vor dem Inquisitor" oder an "Die Wiederkehr des Martin Guerre" von Natalie Zemon Davies. Die Titel klangen nach Roman und Novelle, und die Bücher nutzten das Erzählen als Erkenntnisinstrument der Geschichtsschreibung. Das war nicht neu, sondern uralt, aber die Fallgeschichten der Mikrohistorie erreichten Leser, die sich den Darstellungsformen der Strukturgeschichte nicht aussetzen mochten.

Bei Carlo Ginzburg mochte die Affinität zur Literatur mit der Herkunftswelt zu tun haben. Er wurde 1939 in Turin geboren, einem Zentrum der technisch-zivilisatorischen Modernität, und wuchs in einem intellektuellen Reizklima auf, in dem Literatur, Philosophie, Kunstgeschichte und politischer Aktivismus sich mischten. Der Vater Leone Ginzburg, aus Odessa zugewandert, war an der Seite von Cesare Pavese eine der Gründungsfiguren des Einaudi-Verlags, ging 1943 in den Widerstand und starb im Februar 1944 im römischen Gefängnisses Regina Coeli, die Mutter Natalia Ginzburg wurde eine der großen italienischen Autorinnen ihrer Generation.

Mit obsessiver Energie protestiert Ginzburg gegen die Formel von der Wahrheit als "bewegliches Heer von Metaphern"

Leicht ließe sich die intellektuelle Biografie Carlo Ginzburgs, der 1961 in Pisa seinen Abschluss machte, bis 1988 in Bologna lehrte, danach in Los Angeles und schließlich wieder in Pisa, als Projekt der Symbiose von Geschichtswissenschaft, Literatur und Kunstgeschichte beschreiben. Denn ist nicht der zweite Hauptstrang seines Werks, die "Spurensicherung" (1979), eng mit dem Roman der Aufklärung und dem "Indizienparadigma" des 19. Jahrhunderts verbunden? Mit der Spurenlese in Voltaires "Zadig" und der Lupe von Sherlock Holmes, der Aufmerksamkeit des Italieners Giovanni Morelli auf die übersehenen Details in den Gemälden und der psychoanalytischen Kasuistik Sigmund Freuds?

Es gibt bei Carlo Ginzburg, dem Leser und Freund Italo Calvinos, die wechselseitige Herausforderung von Literatur und Geschichtsschreibung. Und es gibt die Treue zum Motto "Der liebe Gott steckt im Detail" des Kunsthistorikers Aby Warburg. Aber die Isolierung und Feier des Kleinen, Ephemeren, Geringen auf Kosten des Ganzen einer Epoche gibt es bei ihm nicht. Und noch weniger die Aufhebung der Differenz zwischen Roman und Geschichtsschreibung, Fakten und Fiktionen.

Ganz im Gegenteil. Mit geradezu obsessiver Energie protestiert Carlo Ginzburg seit Jahrzehnten gegen den allzu widerstandslosen Siegeszug der Formel Nietzsches, die Wahrheit sei lediglich "ein bewegliches Heer von Metaphern". Wo immer der Befund "auch Klio dichtet", also die Einsicht, dass die Geschichtswissenschaft Erzähltechniken mit der Literatur teilt, in die Behauptung umschlägt, die Geschichtsschreibung sei nur ein Zweig der Rhetorik, erhebt Ginzburg Protest. Darum gibt es den dritten Strang in seinem Werk, der Mikrogeschichte wie Spurensicherung gegen das Aufgehen in Literatur absichert. Er ist in Zeiten der Politisierung von Fake und Fiktion hochaktuell. Denn dieser dritte Strang - man findet ihn etwa in "Holzaugen" (1999), "Die Wahrheit der Geschichte" (2001) oder "Faden und Fährten"(2013) - verteidigt die Einheit von Geschichtsschreibung, Rhetorik und Beweis gegen jede Aufhebung der Grenze zwischen Fakten und Fiktionen. Die Schlüsselrolle fällt dem Beweis zu. Wer Geschichte schreibt, sagt Ginzburg, steht unter Beweispflicht. Er muss wissen, was er tut, wenn er rhetorische Mittel einsetzt. Aber die Rhetorik ist bei ihm nicht mit Täuschung und Fiktion im Bunde, sondern mit der Beweispflicht. Es gibt die Tatsächlichkeit der Geschichte. Ginzburg zeigt das zum Beispiel an Lorenzo Vallas Entlarvung der Konstantinischen Schenkung als Fälschung im Jahr 1440. Aber worauf er reagiert, ist die Leugnung der Schoah durch Historiker wie Robert Faurisson. Der Aufsatz "Unus testits - Nur ein Zeuge" (1992) führt zurück nach Turin. Er ist Primo Levi gewidmet, dem Zeugen für Auschwitz. An diesem Montag wird Carlo Ginzburg achtzig Jahre alt. Wir gratulieren.

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SZ vom 15.04.2019
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