Der Spotify-Boykott kommt nicht so richtig in die Gänge. Nur wenige Künstler folgten Neil Young bislang bei seiner Fehde gegen den Streaminganbieter. Und auch die Nutzer selbst reagieren eher verhalten. Denn nachdem sich die erste Empörung gelegt hat, stellt sich heraus, dass der Wechsel zu einem anderen Anbieter gar nicht so leicht ist. Nur sehr vereinzelt sucht man nach Alternativen.
Auch auf den anderen Streamingplattformen läuft nicht nur die Lieblingsmusik, sondern eben auch die Talkshows von Populisten übelster Sorte. Drüben bei Apple Music sendet etwa der rechte Verschwörungsideologe und Trump-Fanboy Ben Shapiro. Miserabel entlohnt werden die Musiker auf jeder Plattform. Groben Schätzungen zufolge bezahlt Spotify mit 0,00348 US-Dollar pro Stream zwar am schlechtesten, doch die Vergütung bei der Konkurrenz von Apple, Amazon oder Google ist nur um Cent-Bruchteile besser.
Am meisten gibt ausgerechnet die ehemalige Piraterie-Plattform Napster. Vielleicht ist der Anspruch, für zehn Euro monatlich Zugriff auf so gut wie alle aufgenommenen Musikstücke der Menschheitsgeschichte zu haben, ja aber auch ohnehin nicht zu rechtfertigen.
Der große Exodus bleibt aus, man hat über die Jahre zu viel Geld ausgegeben
Die Nutzer sorgen sich jedenfalls nicht nur um Fragen der politischen Haltung, sondern auch um ihre sorgfältig kuratierten Playlists, die bei einem Anbieterwechsel womöglich verloren gehen könnten. Bequemlichkeit und das Versprechen einer intuitive Benutzerschnittstelle schlagen weltanschauliche Bedenken um Längen.
Gerade Spotify mit seinen öffentlichen Titelfolgen war ja nie eine bloße personalisierte Radiostation, sondern immer auch Mittel zum Distinktionsgewinn, bei dem sich die Nutzer gegenseitig ihres guten Geschmacks versichern konnten. Zum Glück gibt es extra für den Umzug der Playlists kleine Gratisprogramme wie etwa Songshift oder Freeyourmusic, die den Umzug erleichtern. Die Ausreden werden also knapper.
Und doch bleibt der große Exodus aus. Nachdem man über so viele Jahre Zeit und Geld investiert hat, sind die versunkenen Kosten ins Unermessliche gestiegen. Es wirkt beinahe, als hätten sich die Warnungen der Skeptiker bewahrheitet, dass digitale Medien zu einer gewissen Entmündigung der Nutzer führen könnten.
Zum ersten Mal seit 17 Jahren wurden 2021 wieder mehr CDs verkauft
Die Ära des Eigentums ist vorbei. Heute sind die Plattensammlungen verkauft und die CD-Regale leer geräumt, ja selbst die Ordner mit gigabyteweise MP3-Dateien, die sich in den frühen Nullerjahren angesammelt haben, haben wohl die meisten Menschen wieder gelöscht. Die Selbstorganisation von digitaler Musik schien von kurzer Dauer zu sein, so als hätte man die überkommenen Verhaltensweisen aus der prädigitalen Zeit noch eine Weile nicht ablegen können.
Ist also alles schlimm? Nicht ganz. Es sieht so aus, als würden die Menschen die Freude am Besitz von Musik neu entdecken. Zum ersten Mal seit 17 Jahren wurden 2021 wieder mehr CDs verkauft. Auch Vinyl hat ein gutes Jahr hinter sich, der Absatz stieg gar um mehr als 50 Prozent. Freilich macht das in absoluten Zahlen mit jeweils knapp 40 Millionen Stück angesichts von 165 Milliarden Internetstreams allein in Deutschland keinen großen Unterschied.
Interessanter ist da schon die Plattform Bandcamp, mitunter als "Anti-Spotify" oder gar als "Streaming-Held" bezeichnet. Hier hält man noch am Konzept des Albums fest, hier bestimmen die Künstler selbst die Preise. Hier verzichtet der Anbieter an bestimmten Tagen sogar auf seinen Anteil, um damit angesichts der Corona-Pandemie strauchelnde Künstler zu unterstützen. Auf diese Weise kamen in den vergangenen zwei Jahren mehr als 100 Millionen US-Dollar zusammen.
Das bezahlte Geld der Nutzer zeigt also tatsächlich Wirkung - und versandet nicht in der Blackbox der Lizenz- und Urheberrechtsgebühren wie bei der großen Konkurrenz. Oder wie es letzte Woche die Band Posthuman twitterte: Kaufe man nur ein Album auf Bandcamp, sei das der finanzielle Gegenwert von täglich gestreamten Liedern über drei Jahre hinweg.