Süddeutsche Zeitung

Spielzeiteröffnung am Münchner Residenztheater:Das Kreuz mit dem Menschen

Mit dem Stück "Die Verlorenen" von Ewald Palmetshofer beginnt am Münchner Residenztheater die Intendanz von Andreas Beck. Ein Start, der Hoffnung macht.

Von Christine Dössel

Es ist ein geglückter (und teils auch beglückender) Start in die erste Spielzeit von Andreas Beck als neuem Intendanten am Bayerischen Staatsschauspiel. Die Auftaktinszenierung endet zwar tragisch, was kein Wunder ist bei einem Stück, das "Die Verlorenen" heißt, der Abend insgesamt aber ist ein Gewinn und die Atmosphäre am neu belebten Münchner Residenztheater ungewohnt locker, einladend und freundlich.

Hinterher, nach dem begeisterten Schlussapplaus, gab es bei der Premiere Bier und Sekt für alle im Foyer. Und wer sie nicht vorher schon begutachtet und kommentiert hatte, konnte oben, im Wintergarten "Zur Schönen Aussicht", die von Ingo Maurer neu für diesen Ort entworfene Lichtinstallation auf sich wirken lassen. Sie nennt sich "Silver Cloud" und zeigt an der nun bordellrot gestrichenen Decke eine Art Leucht-Zeppelin aus 3000 versilberten Blättern, welche im Inneren des Gebildes von kleinen Ventilatoren zum Vibrieren gebracht werden, federleicht und wolkenluftig. Spiegeleffektreich reflektiert im verglasten Rotlichtraum. Man wähnt sich ein bisschen wie in einem Theater-Boudoir, mit lockender Panoramafenster-Abstrahlung hinaus in die Stadt.

Im sonst so sterilen Resi-Foyer hängen nun Schauspielerporträts als Plakatlappen von der Decke wie Wäschestücke von der Leine. Mehr als 50 Gesichter, Beck hat ein Riesenensemble. Zehn davon sind in der Eröffnungsinszenierung zu sehen, darunter drei alte Bekannte: Sibylle Canonica, Ulrike Willenbacher und Arnulf Schumacher. Die anderen sind neu. Nicht alle haben die Stimmkraft und Präsenz, die die leere große Bühne ihnen auf Dauer abverlangt, aber sie sind interessant, und es ist schön, sie zu entdecken.

Der Reiz des Neuanfangs. Die Bühne öffnet sich, und mit einem Schlag ist es strahlend weiß und gleißend hell, und an der kahlen Rückwand prangt: ein Kruzifix. Das wirkt erst mal wie eine Konzession an Markus Söders Kreuzerlass, wir sind hier schließlich im Bayerischen Staatsschauspiel. Aber schnell ist klar: Dieses schlichte Holzkreuz hängt auf genauso verlorenem Posten wie die zehn Personen in beigefarbenen Trenchcoats und Alltagsjacken, die darunter Aufstellung nehmen und einen polyphonen Chor anstimmen: "Hallo? Hört uns jemand? Kann uns jemand ... Ist wer da?"

Es ist ein starker Beginn, den Nora Schlocker in dem ausweglosen Kasten von Irina Schicketanz inszeniert. Ein Prolog-Sog in der Stunde, da wir noch nichts voneinander wussten. Das Panorama, das der österreichische Autor Ewald Palmetshofer hier großdichterisch aufreißt, erinnert an die einstigen Gesellschaftsdramen von Botho Strauß. "Die Verlorenen" sind ein Schlusschor von Anfang an. Geworfene in einem existenziellen Nichts, Einsame, Verzweifelte: "Einige", "Einige Andere".

Die Regisseurin setzt fast nur auf den Text. Leicht macht sie es den Schauspielern damit nicht

Nach und nach schälen sich Monologe aus dem gemeinsamen Sprechakt heraus, kurze, banale Alltagsberichte, hinter denen ein immenser Stress aufblitzt, Momentaufnahmen von Überforderung, Traurigkeit, Demütigung, Pein, sei es beim Ausdrücken eines Pickels, beim abschätzigen Blick eines anderen in der Straßenbahn oder anlässlich einer Blutabnahme beim Arzt. Gedanken einer Mutter auf dem Spielplatz; einer Großmutter am Ende des Verwandtschaftsbesuchs. Dazu der Junge, der mit eingeschlafener, tauber Hand masturbiert, damit sich's "anfühlt wie wer anderer". All diese Einsamkeitsprotokolle in schneller, rhythmisierter Sprache geben schon Hinweise auf die Figuren, die nach diesem Prolog, der wie ein Gebet ist, in die Handlung eintreten. Zuvor schwillt ihr Sprechchoral zu einer Litanei der "allmächtigen Verzweiflung" an, und sie treten näher an die Rampe heran, das rettungslose Nichts des Jenseits beschwörend, den leeren Himmel, das materialistische Hier und Jetzt einer Welt ohne Mitleid: "es wird gerichtet später nichts / schon alles eingerichtet jetzt / und wie es ist / drum richte jeder jede selbst / und richt sich's wie er's wie sie's / braucht/ für alle gibt es nicht genug / wer hat kriegt noch dazu / vielleicht / wer nicht knirsch mit den Zähnen / Pech / was kümmert es das Spiel / wer es verliert".

Das ist er, der klingende, bezwingende Palmetshofer-Sound, diese lyrisch-musikalische Mischung aus Umgangssprache und hohem Ton, rhythmisiert von einer sehr speziellen, hoch artifiziellen Formungskraft, mit der dieser philosophisch und theologisch bewanderte Autor seine Stoffe angeht. Oft brechen bei ihm die Figuren ihre Sätze ab, drehen Wendungen um, stellen Verben nach, sodass eine verfremdende Künstlichkeit entsteht. Palmetshofer, den mit Andreas Beck eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, hat sich als kluger Neuschreiber klassischer Stücke hervorgetan ("Edward II.", "Vor Sonnenaufgang"). Bei den "Verlorenen", verfasst fürs Residenztheater, gab es keine Vorlage, gab es als Unterlage nur ein "Unbehagen", das den Autor nach eigenem Bekunden umtreibt, ein Unbehagen am Zustand der Gesellschaft und dem Umgang der Menschen untereinander. Die Unfähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, die Verrohung der Sprache, die Abwertung des anderen - es sind solche Phänomene der Vereinsamung, Verhärtung und Isolation, denen dieses Stück vielspurig nachspürt. "Was ist der Mensch?", lautet die basale Frage dahinter.

Es ist auch das neue Spielzeitmotto am Residenztheater. Im Zentrum des Stücks, dessen Plot ganz klar erzählt wird, steht Clara, eine Frau am Rand des Nervenzusammenbruchs, die eine Auszeit nehmen will, eine "Unterbrechung", eine "Klausur". Sie zieht sich deshalb ins Haus ihrer Großmutter in einem abgelegenen Kaff zurück. Myriam Schröder spielt sie als überforderte Allerweltsfrau mit gehetztem Blick. Dass sie von vornherein ein weißes Hemdkleid tragen muss, stempelt sie allzu sehr zur Patientin. Um diese "Verlorene" herum kreisen wie Satelliten andere Figuren, an denen Palmetshofer gescheiterte Beziehungen festmacht. Da ist Claras Mutter, der Sibylle Canonica in ihren kurzen, aber nachhaltigen Auftritten die ganze Verbitterung eines Lebens einschreibt. Dass sie mit ihrer Schwester, der schrullig-komischen Ulrike Willenbacher, seit Jahren nicht spricht, ist ein Clinch, der beide Frauen zersetzt.

Ohnehin herrscht auf der Bühne eine gereizte Ton- und Stimmungslage, vor allem bei Claras Ex-Mann Harald und dessen neuer Frau Svenja, gespielt von dem ironisch posierenden Florian von Manteuffel und der handfest zänkischen Pia Händler. Er fast immer nur in Unterhose, sie im Bademantel. Trautes Heim, wahrlich nicht nur Glück allein. Es gibt keine Requisiten und nie einen Szenenwechsel in Nora Schlockers ganz auf den Text bauenden (und daher auch etwas eintönigen) Inszenierung. Das grenzt fast schon an Bilderverweigerung. Die Schauspieler müssen rein mit ihrer Sprache, ihrem Spiel und der Hilfe von Lichtwechseln immer alles selbst herstellen, jede Situation, jede Stimmung, jeden Ort. Leicht macht es ihnen die Regisseurin damit nicht. Alle sind ausgestellt im überdeutlich leeren Raum, stehen manchmal buchstäblich nur darin herum und sprechen Text. Sehr viel Text. Die zwei Typen von der Tankstelle kriegen wenigstens Bierflaschen in die Hand, wenn sie bei der "Frau mit dem krummen Rücken" (Nicola Kirsch als Proll-Blondine) ihren Frust ablassen. Der eine, Franz (Steffen Höld), erzählt von einem befremdlichen Erlebnis mit einer Hirschkuh auf nächtlicher Straße, einer der Höhepunkte des Textes, unseren "Sturz nicht aus dem Himmel / aus der Menschheit" beschwörend. Die menschliche Angleichung ans Tier. Der andere (Max Mayer) fühlt sich derart als Versager, dass er bei der harmlosesten Abfuhr in der Dorfdisco sofort in eine furiose (Selbst-)

Hassrede ausbricht. Bei aller Grundverlorenheit und manch einem Verzweiflungspathos - ein bisschen auch: Verzweiflungskitsch - hat der Text saukomische Szenen. Palmetshofer hat Sprachwitz, er kann Komödie, trägt manchmal mit Deftigkeiten dick auf. "Die Verlorenen" sind ein wirklich funkelndes Stück. Die vielleicht einnehmendste Figur ist Kevin, ein junger Streuner, der ein paar menschliche Wahrheiten erkannt hat, die ihn zum Humanisten machen. Johannes Nussbaum spielt ihn mit schöner, engelsblondgelockter Zerbrechlichkeit. Clara lässt sich für eine Nacht mit ihm ein, aber nur mit dem Körper. Schon am nächsten Morgen holt ihr altes Leben sie ein. Ihr Ex bringt ihr den Sohn vorbei, Florentin. Der ist mit 13 nicht nur in einem schwierigen Alter, sondern grundsätzlich ein Problem. In der Schule wurde er wegen eines Gewaltvideos suspendiert. Die Szenen zwischen Mutter und entfremdetem Sohn (fantastisch pampig und kalt: Francesco Wenz) sind von einer schmerzlichen Bitterkeit. Nähe ist nicht mehr möglich. "Ich hasse schwach", bringt das Kind den Grundsatz einer neuen Generation auf den Punkt. Dann nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Es gibt keine Rettung, allenfalls in uns selbst. Auf der gekippten Bühnenrückwand ist der Herrgott längst abgehängt. Stattdessen hängt dort am Ende ein toter Mensch. Ecce homo. Ein krasses Bild.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2019
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