Ursprünglich sollte die Überschrift dieses Textes lauten: "Die Müdigkeit des Kritikers beim Spider-Man". Aber das ging dann doch nicht. Denn Handke-Anspielungen sind ja noch ermüdender als diese ständigen "Spider-Man"-Filme, und außerdem mag die Feuilletonchefin keine langen Überschriften.
Grundsätzlich spricht auch gar nichts gegen Spider-Man. Im Gegenteil: Er ist der beste aller Superhelden. Er kommt ganz ohne diese ewige Batman-Depression aus. Er hat auch nichts von dem unerträglichen Leni-Riefen-Stahl, aus dem Superman geschmiedet ist. Spidey ist ein Teenager und betreibt das Superheldenwesen auch wie ein Teenager, sehr sympathisch. Nur leider hat man das in den letzten Jahren halt schon gefühlt 425 Mal gesehen. Ein Film folgt auf den anderen, zwischendrin wechselt mal der Darsteller, ansonsten bleibt fast alles gleich.
Man kann sich die Autoren sehr gut bei der Psychotherapie vorstellen: schon wieder ein Spidey-Skript?
Wobei, das stimmt nicht ganz, die vielen Querverweise auf andere Figuren und Handlungsstränge des Marvel-Universums werden jedes Mal mehr, da kommt kein normaler Mensch mehr mit. Weshalb man schon kurz versucht war, Ö. aus dem Layout zu fragen, ob er nicht diesen Film besprechen möchte. Ö. ist vermutlich der Einzige in der Zeitung, der diese ganzen Anspielungen noch kapiert, er kennt sich bei Marvel aus wie kein Zweiter. Aber Ö. muss ja auch jeden Tag dafür sorgen, dass die Zeitung pünktlich in den Druck kommt. Er ist so eine Art Spider-Man der SZ, seine Endgegner sind die Zeit und ein Haufen kreischender Redakteure. Also kann man ihn nicht guten Gewissens zweieinhalb Stunden abziehen und ins Kino schicken, davor noch ein tagesaktueller Corona-Test, in Bayern gilt fürs Kino 2 G plus, das dauert, da gäb's am nächsten Tag vermutlich gar keine Zeitung.
Also geht man halt doch selbst in "Spider-Man: No Way Home". Es stellt sich im Kino dann aber eine große Erleichterung ein. Man ist nicht allein! Denn die Macher scheinen selbst an einer entsetzlichen Spinnen-Fatigue zu leiden. Man kann sich die Drehbuchautoren sehr gut bei der Psychotherapie vorstellen. "Ich muss schon wieder einen Spidey-Film schreiben", klagt da der vom Blockbuster-Burn-out geplagte Autor auf der Couch. Die Therapeutin nickt verständnisvoll und rät (mit Blick auf die Uhr, weil sie heute noch fünf andere Superhelden-Autoren behandeln muss): "Überwinden Sie Ihr Trauma doch einfach, indem Sie es zum Thema des Films machen! Sagen Sie den Zuschauern ganz offen, dass sie auch nicht mehr wissen, was Sie ihnen jetzt noch erzählen sollen, dass Sie quasi auserzählt sind und sich ab jetzt alles nur noch im Kreis drehen kann."
Wie diese Verhaltenstherapie jetzt im Kino aussieht? An dieser Stelle bitte Vorsicht, zumindest Ö. sollte jetzt nicht weiterlesen, Spoiler-Gefahr Stufe eins. Im neuen Spider-Man-Film stellt Spider-Man (Tom Holland) fest, dass er in einem Multiversum lebt. Weshalb er nicht nur von den Bösewichten aus den alten "Spider-Man"-Filmen heimgesucht wird, die durch eine Art Zauberwurmloch klettern - sondern auch von seinen Spider-Man-Vorgängern. Spider-Man (Andrew Garfield) und Spider-Man (Tobey Maguire) müssen Spider-Man helfen, diese Büchse der Pandora wieder in den Griff zu bekommen. With a little help from my friends.
Die Superhelden nehmen sich in den Arm. Das ist schön, das tut bestimmt gut
Da kommt man als Kritiker natürlich sofort auf philosophische Gedanken. Gibt es im Multiversum auch andere Filmkritiker, die sich gerade andere "Spider-Man"-Filme anschauen und darüber schreiben? Kann man sie durch ein Zauberwurmloch besuchen, um herauszufinden, wie es ihnen damit geht? Und fragen, ob die Feuilletonkonferenzen bei ihnen auch immer so lange dauern? Und sind solche Überlegungen ein Zeichen dafür, dass man wie die "Spider-Man"-Autoren vielleicht auch mal schleunigst in Therapie gehen sollte?
Während dieser Gedankengänge wird man natürlich unaufmerksam und verpasst ungefähr eine Stunde des Films. Aber das macht nichts, denn die drei Spider-Männer sind immer noch da und nehmen sich jetzt gerade in den Arm und drücken sich fest. Das ist schön, das tut bestimmt gut, gerade in diesen Tagen.
Schön ist es auch, dass man Tobey Maguire noch mal zu Gesicht bekommt. Was ist eigentlich aus dem geworden? Der war doch einer der Helden der späten Neunzigerjahre und außerdem der Ur-Spidey. Kurz nach 9/11 kam der Film ins Kino, die Twin Towers mussten nachträglich retuschiert werden. Und dass er Kirsten Dunst kopfüber im Regen küssen durfte, darauf ist man ja bis heute eifersüchtig, einer der großen Küsse der Filmgeschichte.
Mist, jetzt sind die Gedanken schon wieder abgeschweift, jetzt läuft schon der Abspann. Ö., nächstes Mal musst wirklich du ran.
Spider-Man: No Way Home , USA 2021 - Regie: Jon Watts. Buch: Chris McKenna, Erik Sommers. Kamera: Mauro Fiore. Mit: Tom Holland, Zendaya, Tobey Maguire, Andrew Garfield. Sony, 148 Minuten. Kinostart: 15.12.2021.