Süddeutsche Zeitung

Spanien 1956:Das schweigende Dorf

Eine junge Journalistin erkundet einen merkwürdigen Fall von Wunderglauben in einem spanischen Bergdorf. Und erlebt den harten Griff von Faschismus und Katholizismus im Jahr 1956, im Roman "Die große Kälte".

Von Susan Vahabzadeh

Man kann sich das gut vorstellen, wie der Faschismus und der Katholizismus sich zu einem so undurchdringlichen Brei vermengen, dass darin die Zeit stillzustehen scheint und jeder Freiheitsdrang erstickt. Als Ana Martí im Winter 1956 aus Barcelona in ein kleines Dorf in den Bergen geschickt wird, um dort für eine Geschichte zu recherchieren, kommen ihr die Menschen dort vor wie gelähmt. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die Straßen leer, wer ihr begegnet, lächelt nicht; und die jungen Frauen sehen aus wie Greisinnen. Das einzige, was die Dorfbewohner in Ekstase versetzt, ist die Aussicht, einen Blick zu erhaschen auf die lokale Attraktion, die kleine Heilige, über die Ana Martí schreiben soll: ein ausgemergeltes Mädchen mit Stigmata, das der Dorfpfarrer gern in der Boulevardpresse als Heilige etablieren würde, bevor ihm seine Vorgesetzten in Rom das Handwerk legen.

Rosa Ribas und Sabine Hofmann haben mit "Die große Kälte" ihren zweiten gemeinsamen Roman geschrieben, "Die flüsternde Stadt" hieß der erste, ebenfalls mit der Journalistin Ana Martí als Heldin. Die beiden Autorinnen, Hispanistin die eine, Romanistin die andere, haben ihre Geschichte mit literarischen Anspielungen gespickt - ohne, dass man in spanischer Literatur besonders beschlagen sein müsste, um sie zu verstehen.

Ana Martí, unverheiratet, viel zu modern für ihre Zeit und ganz schön sarkastisch, ist die Tochter eines linken Journalisten, der längst nicht mehr in seinem Beruf arbeiten darf, sie schlägt sich bei einem Boulevardblatt durch. Ufo-Geschichten sind ihr peinlich, aber die Menschen empfinden sie als Licht in der Franco-Zeit. Der spanische Bürgerkrieg ist noch nicht lange her; eine Aufarbeitung findet nicht statt. Man könnte, in Anspielung auf die Ku'damm-Fernsehserie, sagen: Ramblas '56. Es ist noch schlimmer auf dem Dorf, in das Ana fährt, da wird über alles ein Mantel des Schweigens ausgebreitet. In den Wäldern soll es noch Männer geben, die dem Maquis angehören, im Untergrund weiter gegen Franco kämpfen - im Dorf bekennt sich aus jeder Familie einer der Männer zum Somatén, der sie bekämpfen soll.

Niemand will Anas Fragen beantworten, wenn sie wissen will, ob die Menschen wirklich glauben, dass das kleine Mädchen eine Heilige ist. Nur der Dorfpatron, der sich gebärdet wie ein Landedelmann, äußert Zweifel an der Echtheit der Stigmata. Und Ana, die Rationalistin aus der Stadt, hält das sowieso für ausgemachten Blödsinn. Fast würde sie wieder abfahren - aber sie kann nicht: Es ist der härteste Winter seit vielen Jahren, und es schneit so stark, dass Ana der Rückweg versperrt ist. Und dann wird im Schnee die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden, mit dem Ana sich unterhalten wollte, weil es die beste Freundin der kleinen Heiligen war.

Rosa Ribas und Sabine Hofmann erzählen das sehr anschaulich; all diese Räume mit den düsteren Holzmöbeln in kalten alten Häusern werden so greifbar, weil die Mechanismen stimmen, die Ana aufdeckt. Wer die Vergangenheit verdrängt, lernt sie in dem kleinen Ort, kommt mit der Gegenwart nicht ins Reine. Es gibt etwas in diesem Dorf, das alle wissen, aber keiner spricht es aus. Das ganze Kaff ist zu einem rechtsfreien Raum geworden. Und man versteht dann auch, warum dieses Gebilde letztlich einstürzen muss: Drei Kräfte regieren das Dorf, Geld, Staat und Kirche, bis in die Familien hinein, aber dann haben sie es zu weit getrieben. Einen, der nichts mehr zu verlieren hat, kann man nicht erpressen.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Rosa Ribas, Sabine Hofmann: Die große Kälte. Kindler Verlag, Reinbek 2016. 336 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 12.04.2016
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